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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Édouard Levé
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bedroht, aus ihrer Anwesenheit war dir nie ein Problem erwachsen, aber du befürchtetest, wie sie zu enden. Doch war deine Sorge völlig unbegründet. Du warst weder allein noch arm, alkoholkrank oder verlassen. Du hattest eine Familie, eine Frau, Freunde, ein Haus. Auch an Geld mangelte es nicht. Doch Obdachlose waren wie Geister, die eines deiner möglichen Schicksale verhießen. Du identifiziertest dich nicht mit den Glücklichen, und in deiner Maßlosigkeit projiziertest du dich auf diejenigen, die alles verpasst oder nichts erreicht hatten. Für dich verkörperten sie das letzte Stadium eines Verfalls, zu dem auch dein Leben würde neigen können. Du hieltst sie nicht für Opfer, sondern für Schöpfer ihres Lebens. So skandalös es auch erscheinen mochte, du glaubtest, dass manche Obdachlose selbst gewählt hatten, so zu leben, wie sie lebten. Eigentlich war es das, was dich am meisten beunruhigte: dass du dich eines Tages selbst dafür entscheiden könntest zu verwahrlosen. Nicht einfach dich zu vernachlässigen, was eine Form von Passivität wäre, sondern verfallen zu wollen, dich erniedrigen zu wollen, selber die Entscheidung zu treffen, eine Ruine deiner selbst zu werden. Erinnerungen an andere Obdachlose tauchten in dir auf. Bei ihrem Anblick überkam dich oft ein seltsamer Zwang, stehenzubleiben und sie aus der Distanz zu beobachten. Sie besaßen nichts, lebten von der Hand in den Mund, ohne Behausung, ohne Besitz, ohne Freunde. Ihre Mittellosigkeit faszinierte dich. Du stelltest dir vor, so wie sie zu leben und alles, was dir geschenkt worden war und was du selbst erworben hattest, aufzugeben. Du würdest dich von allen Dingen, allen Menschen und von der Zeit lösen. Du würdest die Planung deiner Zukunft verweigern und dich in einer fortwährenden Gegenwart einrichten. Du würdest dich einzig von zufälligen Begegnungen und Vorkommnissen leiten lassen und dich weigern, Entscheidungen zu treffen, die man gegeneinander abwägen müsste. Während du in der U-Bahn saßt, hast du dir vorgestellt, wie dein Leben an Stelle deines Platznachbarn aussehen würde; schließlich ist dieser torkelnd aufgestanden und ausgestiegen, um zu einer Gruppe betrunkener Obdachloser auf dem Bahnsteig zu stoßen. Einer von ihnen lag zusammengesunken auf dem Boden und schlief mit offenem Mund, entblößtem Leib und einem aufgerissenen Schuh. Er glich einem Toten. Und vielleicht war es das, was du wirklich befürchtetest: in einem Körper zu sterben, der noch atmet, trinkt und sich ernährt. Dich in Zeitlupe umzubringen.
    In deinem Büro hattest du ein Portrait deines Großonkels aufgehängt, und zwar an der Wand hinter dem Schreibtisch, sodass du ihm im Sitzen den Rücken zukehrtest. Du sagtest, auf diese Weise würde er dich anschauen statt du ihn. Seine Augen ruhten ständig auf dir, während du dich umdrehen musstest, um ihn zu sehen. Du gewährtest ihm ständige Beobachtung, die in keinem Verhältnis stand zu den flüchtigen Blicken, die du auf ihn warfst, wenn du das Zimmer betratst.
    In deiner Stadt gab es weder einen Psychoanalytiker noch einen Psychiater. Du hast dich gefragt, ob deine schlechte seelische Verfassung ihre Ursache in einer körperlichen Funktionsstörung habe. Du hast einen Allgemeinmediziner aufgesucht, und er verschrieb dir ein Antidepressivum. Du hast es eingenommen, als handelte es sich um ein Experiment. Nach einigen Tagen verspürtest du ein eigenartiges Gefühl von Fremdsein. Du hörtest die Worte aus deinem Mund kommen, als seien sie die eines anderen. Deine Gesten wurden brüsk. Du nähertest dich deiner Frau und nahmst sie unversehens in die Arme. Du packtest sie heftig und ließt sie plötzlich wieder los. Mit noch ausgebreiteten Armen schaute sie dir verständnislos nach, wie du dich von ihr entferntest. Du nahmst ein Buch und begannst zu lesen, Die Wörter zeichneten die Linien eines abstrakten Bildes auf die Seite, während ihr Sinn dir entglitt. Du legtest es wieder hin, gingst in die Küche und schmiertest dir ein Brot, das du dann nicht aßt. Du gingst hinaus, um eine Runde ums Haus zu drehen und kamst nach einigen Minuten wieder zurück, weil du nicht mehr wusstest, warum du hinausgegangen warst. Du rauchtest eine Zigarette und drücktest sie nach wenigen Zügen wieder aus. Du setztest dich an den Schreibtisch und last in deinen Mitschriften der Wirtschaftsvorlesungen, dann zogst du Rechnungen heraus, die zu begleichen waren. Nichts konnte deine Aufmerksamkeit halten. Du räumtest

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