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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Édouard Levé
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trennen sie, nicht fünfundachtzig: Niemandem außer dir kam es in den Sinn, mit deinem Tod zu scherzen.
    So leicht es dir fiel, Leute in einem Zwiegespräch kennenzulernen, so schwer fiel es dir, ihnen in einer Gruppe zu begegnen. Einmal hatte ich dich zum Mittagessen ins Haus meiner Eltern eingeladen, das einige Kilometer von deinem Wohnort entfernt lag. Wir hätten allein sein sollen, doch am Ende des Vormittags hatten mich einige Freunde mit einem Besuch überrascht, und ich hatte ihnen vorgeschlagen, zum Essen zu bleiben. Als du an der Hausecke auftauchtest und wir gerade in der Sonne den Aperitif nahmen, entdecktest du einen Tisch, der für sechs gedeckt war statt für zwei. Im selben Augenblick hat sich dein Gesicht verzerrt. Es hat sich wieder geglättet, als du bemerktest, dass ich deine Verärgerung verstand. Du hast nicht versucht, mir deine Gefühle zu verbergen, sondern die Unhöflichkeit zu vermeiden, meinen Freunden gegenüber unangenehm zu erscheinen. Ich wusste, du wärst lieber auf dem Absatz umgekehrt und nach Hause gegangen, als zu bleiben und mit Leuten Konversation zu treiben, die du nie wiedersehen würdest. Diese Leute kannten sich gut. Du hattest eine spezielle Gabe, die Dauer einer Freundschaft auf Anhieb zu erkennen: an der Lautstärke des Gesprächs, an der Heiterkeit der Stimmen und am Spiel der Blicke. Du hättest dich lieber einer Gruppe von Unbekannten zugesellt, die sich erst entdeckten, als dieser Stammesgemeinschaft, die sich vor langer Zeit ohne dich gebildet hatte. Doch du zwangst dich zu bleiben. Du sprachst den ganzen Nachmittag mit einer einzigen Frau, und es gelang dir, dich mit ihr abzusondern, erst zum Maronibaum, dann unter die Zeder. Die Anziehung beruhte auf Gegenseitigkeit, doch gleichzeitig war es dir nicht möglich, sie unabhängig von der Gruppe wahrzunehmen, in der du sie kennengelernt hattest. Der Schatten der anderen schwebte über ihr. Du befürchtetest, bei einem Wiedersehen über die Spuren ihrer Freunde nicht hinwegsehen zu können. Du wolltest kein fünftes Rad am Wagen sein. Selbst wenn diese Gruppe dich aufnähme, würdest du immer der Nachzügler sein. Bereits bestehenden Freundschaften, denen man sich als Fremder anschließt, zogst du solche vor, die in deiner Gegenwart entstanden: Diese sahst du aufkeimen und wachsen, und obwohl du nicht voraussagen konntest, welche besonderen Empfindungen sich entspinnen würden, wusstest du, ihr würdet vor der Zukunft gleichrangig sein, weil ihr zur gleichen Zeit zueinander gefunden hattet. An diesem Spätnachmittag hast du begriffen, dass die gemeinsame Vergangenheit meiner Freunde dich immer auf Abstand halten würde. Du wolltest dich diesem Kreis lieber gar nicht erst nähern, als an seinem Rand bleiben zu müssen.
    Du hattest mit Erfolg die schriftliche Aufnahmeprüfung für eine Elite-Hochschule bestanden. Bei der mündlichen Prüfung in Allgemeinbildung gab man dir eine halbe Stunde Zeit, um eine Erörterung zu folgendem Thema vorzubereiten: »Muss man bezweifeln, dass man seinen Tod zu leben hat?« Die paradoxe Formulierung ließ dich schwindeln. Kann man seinen Tod leben? Ja, unterstellte die Frage, denn es wurde danach gefragt, ob man daran zweifeln müsse. Du warst zwanzig Jahre alt. Bis jetzt hattest du über den Tod wie über ein Phänomen nachgedacht, das andere betraf und das, wenn es dich einmal ereilte, dich ohne ein Bewusstsein davon davontrüge. Den Tod zu leben – sollte das heißen, ihn kommen zu sehen und zu empfangen, statt ihn abrupt zu erleiden, ohne Zeit zu haben, um zu spüren, wie man davongeht? Sollte das heißen, ihn im Voraus zu wählen und seine Willensfreiheit gegenüber dem Unausweichlichen zu behaupten? Die Fragen überstürzten sich in deinen Gedanken, und auf einem weißen Blatt machtest du ungeordnet Notizen. Eine davon, von der du mir später erzählt hast, lautete: »Der Tod ist ein Land, von dem man nichts weiß, und keiner ist jemals daraus zurückgekehrt, um es zu beschreiben.« Das Thema bedeutete dir zu viel, als dass du auf Distanz hättest gehen können. Die halbe Stunde verstrich, ohne dass du deine Gedanken hättest ordnen können. Du betratst den Saal, in dem dich zwei Prüfer hinter einem Tisch kühl erwarteten. Du nahmst Platz und begannst, deine Gedanken, die du notiert hattest, in derselben chaotischen Folge wiederzugeben, wie sie in dir aufgetaucht waren. Du glaubtest, Enttäuschung auf den Gesichtern deiner Gesprächspartner zu lesen. Sie blieben still sitzen,

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