Selbstmord (German Edition)
während die Worte mechanisch deinen Mund verließen, als würde ein anderer sie formulieren. Du wiederholtest laut die mäandernden Gänge deiner Gedanken. Einer der beiden Männer griff mit einer Frage einen davon auf: »Also ist der Tod für das Leben dasselbe wie die Geburt für die Leblosigkeit?« Eine lange Stille folgte. Du bliebst stumm und wie versteinert, als hätte sich der Tod persönlich an dich gewandt. Nicht dass er sich in deinen Prüfern inkarniert hatte, doch er ging im Raum um, zwischen ihnen und dir. Du hast auf das Ende der Prüfung gewartet: Es kam nicht mehr darauf an, sie zu bestehen. Obwohl du beim Hinausgehen überzeugt warst, durchgefallen zu sein, bedauertest du nicht, sie abgelegt zu haben. Hinter den Tod gekommen zu sein und hinter die Verständnislosigkeit, die ihn begleitete, erschien dir wichtiger als das Ergebnis der Prüfung. Einige Zeit später hat man dir verkündet, du seist angenommen. Deine Ausführungen zum Tod hatten dir eine der besten Noten eingebracht. Du hast die Aufnahme abgelehnt.
Bei Einladungen zum Abendessen hättest du gern den Speiseplan gleich mit erhalten, um dich schon im Voraus auf die Gerichte zu freuen, die du genießen würdest. Zum kommenden Gaumenkitzel hätte sich die gegenwärtige Vorfreude noch dazuaddiert.
Du wolltest deine Zukunft kennen, und zwar weniger, um Gewissheit darüber zu haben, was aus dir werden würde, als um das kommende Leben schon im Vorhinein durchzuspielen. Du hast von einem durchgeplanten Terminkalender geschwärmt, in dem die Tage bis zu deinem Tod klar umrissen wären. Du würdest dich auf die Freuden und Herausforderungen des nächsten Tages wie auch auf die in fernerer Zukunft vorbereiten können. Du würdest in der Zukunft nachschlagen, wie man in der Vergangenheit blättert, und dich nach Belieben darin bewegen können. Doch eines Tages hätte dieser imaginäre Kalender dein Leben als große Dornenhecke dargestellt. Ein voraussagbares Leben beruhigte dich deshalb, weil du es dir als Leben voller Freuden vorstelltest. Doch nichts gab dir eine Garantie für den Inhalt dieses Kalenders. Er hätte ebenso gut dein schlimmster Albtraum sein können, eine einzige Folge von vorbestimmten Unglücken, für die du dich hättest wappnen müssen. Die Zukunft nicht zu kennen konnte sie dagegen erstrebenswert machen.
Du wolltest nur Urheber von Handlungen mit langer Nachwirkung sein, von Akten, die man in wenigen Minuten ausführt, deren Spur man aber über lange Zeit bewahren und wahrnehmen würde. Dein Interesse für Malerei rührte von dieser Einbettung der Zeit in Materie: Auf die kurze Dauer seiner Herstellung folgte das lange Leben eines Bildes.
Während eines Sommers am Meer bist du einmal allein mit einem Katamaran losgefahren. Du hast die Segel gesetzt und bist einfach dahingeglitten. Warum umwenden? Waren die Wellen nicht überall gleich? Die Richtung war dir egal. Du hast dich um keinen Kurs geschert, sondern den Bug zum Horizont gesteuert und der Küste den Rücken zugekehrt. Du wolltest das Land vergessen, doch deine Expeditionen waren zu kurz, um nur noch von Wasser umgeben zu sein. Die Luft füllte deine Lungen, die Wellen durchfluteten dein Gehör, die Bewegung des Bootes zwang deinen Körper dazu, Gleichgewicht zu suchen. Das Schaukeln der Wellen hypnotisierte dich, während der Wind dich gleichzeitig wachhielt. Du mochtest dieses helle Dämmern, das dem eines Kindes glich, das von einer Amme in den Armen gewiegt wird und unter ihrem sanften Gesang einschläft. Dann musstest du zurück. Du wendetest und setztest alles daran, in derselben direkten Linie zurückzukehren wie du hinausgekommen warst, obwohl die Windrichtung dich zwang, im Zickzackkurs zu kreuzen. Der Anblick von Land in der Ferne brachte dich in jene Realität zurück, die das Meer dich hatte vergessen lassen. Je näher der Strand kam, desto ferner rückte der Wachtraum, in den die Fluten dich getaucht hatten.
Eines Abends bist du in einer großen Stadt der Provence drei Stunden lang ziellos durch die Straßen geschlendert. Du hast ein Viertel ohne jeden Charme erreicht, das von zwei großen Boulevards begrenzt wurde. Billige Mietskasernen wechselten mit Häuserblocks des sozialen Wohnungsbaus ab, mit Altersheimen, Garagen, Supermärkten und Staubsaugergeschäften, einigen Haustierbedarfsläden und Damenfriseuren. Ein starker Geruch nach Bratfett und Schmorfleisch drang aus einem Restaurant mit dreckigen Vorhängen, dessen ausgehängter Speiseplan dem einer
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