Selina - Liebesnaechte in Florenz
allerdings nur Frauen und Kinder - die bis zu ihnen vordrangen, sie anstaunten, ausfragten und die Schönheit der vermeintlichen Enkelin bewunderten.
Obwohl die Santinis so reich waren, dass sie ein großes Haus, fast schon einen Palast bewohnten, schien es Selina, die in einem herrschaftlichen Schloss wohnte, etwas klein geraten, jedoch durchaus gemütlich und heimelig. Es hatte in allen Schlafräumen und dem Repräsentationsraum, der sala , Kamine. Auf Bänken und Stühlen lagen hübsche Decken und auf den Tischen standen schön verzierte Vasen mit bunten Blumensträußen. Ihr und Francoises Zimmer erreichte man über die Steintreppe, die an der Hofseite des Hauses alle Etagen und Räume verband.
Die engere Familie bestand aus dem Großvater, dessen Sohn Giovanni, Fiorina, seiner zweiten Frau, und seinen drei Kindern sowie seinem Sohn aus erster Ehe, der im Gegensatz zu seinem Vater rank und schlank gewachsen war und dem bereits ein leichter Flaum auf der Oberlippe wuchs. Dann gab es noch reichlich Cousinen und Cousins, die im Haus ein- und ausgingen. Ferner waren da Freunde, Geschäftspartner und eine große Anzahl Nachbarn, die laufend zu Gast waren und das Haus zu einem lebhaften Treffpunkt machten. Selina hatte Mühe sich ihre Namen zu merken, sah jedoch zu ihrer Zufriedenheit, wie freundlich und zuvorkommend sie alle zur vermeintlichen Enkelin waren.
Ferner gehörten zum Haushalt noch die engeren Gehilfen des Großvaters, Diener und Dienerinnen und zu Selinas größter Verblüffung auch eine Sklavin, die Bene Santini als Kind gekauft hatte und die im Haushalt groß geworden war. Sklaverei war in ihrer Heimat unbekannt, auch wenn sich die bäuerliche Bevölkerung in großer Abhängigkeit von den Grundherren befand. Hier, in der Umgebung von Florenz war die Leibeigenschaft jedoch schon vor fast einhundert Jahren aufgehoben worden und dennoch hielten sich die meisten Familien Sklaven. Allerdings war deren Los, wie sie feststellte, nicht immer so schlecht, wie es den Anschein hatte. Auch wenn sie es als entwürdigend fand, dass ein Mensch im Eigentum eines anderen stand, so genossen diese Leute oft die gleiche äußere Freiheit wie die anderen Diener, selbst wenn sie dafür keinen anderen Lohn als Unterkunft und Essen erhielten.
Weitaus schlimmer als sie waren nach Selinas Meinung die Arbeiter dran, knapp fünfzig Leute, die jeden Morgen durch Glockenschläge vom Aufseher zur Arbeit gerufen wurden und dann eng zusammengedrängt in den stickigen Arbeitsräumen saßen. Arme Teufel waren das, die auf der Suche nach Arbeit vom Land in die Stadt gekommen waren, um nun tagaus tagein immer dieselbe Arbeit zu verrichten. Verschmiert vom Schmutz kratzten sie aus der Wolle einzelne Strähnen heraus und gaben diese an die Spinner weiter. Sie sortierten, wuschen, klopften, spulten und pressten und das alles nur um einen Hungerlohn und unter der ständigen Aufsicht des Aufsehers, der früher sogar das Recht besessen hatte, Vergehen mit dem Abschlagen von Händen und Füßen zu bestrafen.
Selina hatte auch daheim Armut gesehen und noch mehr, als sie auf ihrer Reise durch dreckige Städte und Dörfer gekommen war. Aber auf ihrem eigenen Land und Besitz sorgte sie dafür, dass alle ihre Bauern und Pächter genügend zu essen und anständige Kleidung hatten. Das war nichts, was sie von ihrem Vater gelernt hatte, einem Feudalherrn, der sich keine Gedanken um seine Leute gemacht hatte, und ebenso wenig von ihrer Mutter; sondern von ihrer Amme, die das einsame Kind oft zu ihrer eigenen Familie mitgenommen hatte, wo es unter ihrer Aufsicht mit den Dorfkindern hatte spielen dürfen.
Sie lernte in Florenz vieles kennen, das ihr bisher fremd gewesen war. Der Unterschied zwischen den fortschrittlichen Gedanken, dem Wiederaufleben lange Zeit vergessenen Gedankenguts, den modernen Gebäuden, die der Antike nachempfunden wurden, und der patriarchalischen, engstirnigen Welt, die daneben fast unverrückbar herrschte, faszinierte sie. Sie hatte daheim sehr zurückgezogen gelebt und ihre einzigen Vergnügungen waren die Jagd gewesen und Bücher, in denen sie in der kalten Jahreszeit, wenn nur wenige Besucher ins Schloss gekommen waren, gelesen hatte. Sie hatte jedoch stets darauf geachtet, ein offenes Haus für Reisende zu haben, vor allem für umherziehende Mönche, die ihr noch weitere Bücher mitbrachten oder Erzählungen aus den Landen, die sie besuchten, und denen sie mit Begeisterung gelauscht hatte. Nur der Wunsch, selbst zu reisen
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