Sensation in der Manege
könntest die Hälfte davon den anderen überlassen. Aber du — du bist besessen davon, alles selber machen zu wollen! Wahrscheinlich ist dir kein anderer gut genug, was weiß ich, was die Pferde betrifft muß ja bei dir immer alles perfekt sein. Du bist so verbohrt, daß du gar nicht merkst, wie du dich immer mehr festfährst. Das ist doch Krampf, Bille. Das mußt du doch einsehen!“
Bille war wütend gewesen. Bettina hatte gut reden. Die ritt zwei Pferde täglich, kümmerte sich um ihr Sternchen und Daniels Asterix, wenn Daniel nicht daheim war. Und wenn sie mal keine Zeit oder keine Lust hatte, wurden Sternchen und ihr kleines Fohlen Stella einfach auf die Koppel geschickt. Der Haflingerstute machte es nichts aus, wenn sie bei jedem Wetter draußen war. Und auf Turniere mußte sie sich auch nicht vorbereiten — Bettina beschränkte sich auf die Freizeitreiterei. Da konnte sie sich natürlich allen möglichen anderen Dingen widmen: Sie las viel, hörte Musik und begleitete Herrn und Frau Henrich regelmäßig ins Theater oder Konzert. Und was ihre Weihnachtsgeschenke betraf, hatte sie überhaupt keine Probleme! Da sie so viel malte und fotografierte, brauchte sie am Ende des Jahres nur zu entscheiden, wem sie welches ihrer Werke verehren wollte.
Außerdem hat sie Phantasie! dachte Bille verbittert und knallte ihre Zimmertür geräuschvoll hinter sich zu. Bettina fällt immer etwas Originelles ein; die macht auch noch aus einer Handvoll trockener Blätter etwas oder aus ein paar alten Hosenknöpfen. Sie macht eine Collage oder schreibt ein lustiges Gedicht, backt einen Kuchen oder eine Pastete, um jemanden damit zu überraschen, und das alles im Handumdrehen. Alles ist bei ihr wie ein Spiel, wie ein reines Vergnügen. Und ich?
Bille warf sich angezogen aufs Bett und schloß die Augen. Am liebsten wäre sie gleich eingeschlafen. Aber Mutschs Vorwürfe hallten ihr noch in den Ohren. War es denn wirklich so schlimm, wenn ihr Leben ganz und gar den Pferden gehörte? Wie hatte Daddy damals zu ihr gesagt — ein Reiter, der ungebildet ist und außer ein paar Kenntnissen über Pferde nichts im Kopf hat, der taugt nichts. Wer als Reiter wirklich zur Spitzenklasse zählen will, der sollte auch andere Interessen pflegen, sollte lesen und sich weiterbilden und mit wachen Augen durch die Welt gehen, nicht mit Scheuklappen. Denn was wäre, wenn er eines Tages so erfolgreich wird, daß er so eine Art Aushängeschild für sein Land wäre? Er wird Interviews geben müssen, wird im Fernsehen erscheinen, man wird ihn sehr genau unter die Lupe nehmen, seine Manieren, sein menschliches Verhalten, sein Wissen. Für so etwas kann man keine Dummköpfe gebrauchen! Und sie hatte sich immer vorgenommen, seinem Idealbild eines Reiters ähnlich zu werden: bescheiden, intelligent, mit einem fundierten Wissen, guten Manieren, einem wachen Interesse für alles, was auf der Welt vorgeht, und echter Tierliebe.
„Müde — lächerlich!“ sagte Bille laut und sprang auf. Sie ging in die Küche hinunter und braute sich einen starken Tee. Dann setzte sie sich an ihren Schreibtisch, holte das Briefpapier heraus, verzierte ein paar Seiten mit kleinen Zeichnungen, Kerzen, Tannenzweigen und Sternchen und schrieb ihre Weihnachtspost.
Es war lange nach Mitternacht, als sie schließlich noch ein weißes Blatt zur Hand nahm und eine Liste derjenigen aufstellte, denen sie etwas zu Weihnachten schenken wollte. Hinter jeden Namen setzte sie einen Vermerk, was für denjenigen in Frage kam. Zufrieden mit sich taumelte sie, frierend und übermüdet, gegen halb zwei ins Bett.
Am nächsten Morgen während des Unterrichts fühlte sich Billes Kopf an wie ein hohler Kürbis. Sie hatte alle Mühe, nicht einzuschlafen, und mußte immer wieder bei Bettina nachfragen, wovon im Augenblick da vorn die Rede war.
„Du siehst so blaß aus!“ fragte Bettina in der Pause. „Bist du krank?“
„Nur ein bißchen müde. Hab heute nacht meine Weihnachtspost erledigt.“
„Alle Achtung! Das habe ich bis jetzt noch nicht geschafft... Du solltest dich nach dem Essen hinlegen, damit du heute nachmittag nicht aus dem Sattel fällst. Nico tritt dir bestimmt gern ihr Bett ab.“
„Ach was, wenn ich über den toten Punkt bin, kann ich stundenlang weitermachen.“
Bille aß mittags im Internat. Nach dem Essen war es den Schülern freigestellt, an einer der drei Studierzeiten teilzunehmen, je nachdem, in welcher Gruppe sie Reitunterricht oder Stalldienst hatten, oder ob sie
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