Sensenmann
der Alte könne bewusstlos sein oder sich verletzt haben.
In Matthias’ Kopf begann eine Armada von Waldarbeitern ihre Motorsägen anzuwerfen. Es kreischte und gellte. Wieso hatte diese Tür offen gestanden? Den Gestank von Grünkerns verwesendem Leichnam hätte man frühestens nach ein paar Tagen bemerkt. Eine offene Wohnungstür dagegen stach jedem sofort ins Auge. Wollte etwas in ihm, dass er erwischt wurde?
Er schloss die Augen und ließ den letzten Teil des Films vom Sonntag in seinem Kopf ablaufen.
Nachdem weiteres Rütteln an der Rouladennadel nichts mehr gebracht hatte, hatte Matthias zur Kneifzange gegriffen. Aber auch Zwicken, bis das Blut kam, oder Herausreißen des rechten Daumennagels führten leider nicht mehr dazu, dass der Mann noch interessante Details preisgegeben hatte. Weder nannte er neue Namen von Erziehern, noch schien er zu wissen, wo sich die restlichen seiner Kollegen heute aufhielten. Anscheinend hatte der ehemalige Heimleiter seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen gehabt, und Matthias neigte dazu, ihm zu glauben, weil die sauber platzierten Stiche der großen Stopfnadel in den Hoden jeden Mann dazu gebracht hätten, mit der Wahrheit herauszurücken. Stattdessen hatte Rainer Grünkern bis ins kleinste Detail die Dinge zugegeben, die er damals den Kindern angetan hatte. Seine Favoriten waren kleine, blonde Mädchen gewesen, aber er nahm auch mit Jungen vorlieb, wenn sie ihm gefielen. Abends, wenn nur noch die Nachtschicht anwesend war, hatte der Heimleiter sich seinen jeweiligen Liebling geholt und ihn mit in den Keller genommen, in einen Raum mit dicken Mauern, aus dem keine Geräusche nach außen drangen. Was er dort mit den Kindern anstellte, beschrieb er nicht genauer, aber das musste er
auch nicht. Matthias erinnerte sich, während er mit dem wiederkehrenden Brechreiz kämpfte, nur zu gut. Er erinnerte sich vor allem an den entseelten Ausdruck in den Augen manch kleinen Mädchens am nächsten Morgen. Jedes Licht war aus ihrem Blick verschwunden.
An ein Kind namens Mandy konnte sich Rainer Grünkern angeblich nicht erinnern, aber Matthias nahm an, dass der Heimleiter über der Vielzahl von Opfern einzelne Namen vergessen hatte. Es war auch nicht mehr wichtig.
Nachdem er ihm zur Abwechslung noch den kleinen Finger mit der Wasserrohrzange zerquetscht hatte, flüchtete sich Rainer Grünkern in die Bewusstlosigkeit und ließ sich durch mehrere Ohrfeigen und viel kaltes Wasser nur kurz wieder erwecken. Aber auch dann waren keine weiteren Informationen mehr aus ihm herauszuholen. Der Typ lag auf dem Teppich, die Augen verdreht, sodass nur noch das Weiße zu sehen war, Schleim und Spucke liefen ihm aus dem Mundwinkel, die Hemdbrust war mit dem Erbrochenen seines Rächers verschmiert. Er hatte seinen Zweck erfüllt.
Matthias hatte den Computer laufen lassen, damit die Polizei, wenn sie Rainer Grünkern fand, nicht erst mühselig nach einem Passwort suchen musste. Die Beamten sollten sehen, was er gesehen hatte, das Zimmer eines Pädophilen, der mit Minderjährigen chattete und hunderte von Kinderpornos besaß. Das würde die Suche nach einem Mordmotiv in die richtigen Bahnen lenken.
Aber trotz alledem – Matthias öffnete die Augen wieder –, trotz alledem war nicht geplant gewesen, dass man die Leiche so schnell fand. Nachdem es an der Wohnungstür geklingelt hatte, war er für ein paar Sekunden wie gelähmt gewesen, aber der Störenfried hatte sich damit zufriedengegeben, dass niemand öffnete, und war wieder verschwunden. Danach hatte Matthias es eilig gehabt, das wusste er noch, und da aus dem ehemaligen
Heimleiter nichts mehr herauszuholen gewesen war, beschloss er, der Posse ein schnelles Ende zu bereiten. Ungeachtet seiner Anstrengungen, sich zu erinnern, endete der Film damit, dass er Grünkern eine seiner Krawatten um den Hals wickelte und immer fester zuzog.
Weder sah er sich seine Utensilien zusammenpacken noch die Wohnung verlassen. Da die beiden leeren Pakete heute früh noch auf dem Rücksitz seines Autos gelegen hatten, konnte er sich wenigstens sicher sein, diese nicht in Grünkerns Flur zurückgelassen zu haben. Und auch die Tasche mit den Werkzeugen war an Ort und Stelle.
Auf dem Bildschirm flogen kleine weiße Punkte durch einen schwarzen Nachthimmel. Der Bildschirmschoner war angesprungen. Matthias ließ seinen Kopf kreisen und lockerte die Schultern. Im Netz stand, die genauen Todesumstände seien noch unklar, aber er wurde das Gefühl nicht los,
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