Sensenmann
konnte sich nicht an ein Kinderheim in Meerane erinnern, geschweige denn an einen Prozess, aber das konnte er nachrecherchieren. Viel interessanter war, was Sebastian Wallau über das Gerichtsverfahren schrieb. Es gab ihm und seinen Handlungen recht und bewies, dass es sinnlos war, auf die Justiz zu vertrauen. Seine Maßnahmen waren fraglos die besseren, um die ehemaligen Tyrannen zu bestrafen.
Das erste Verfahren fand im August 2000 vor dem Landgericht in Chemnitz statt. Als Ergebnis stellten die Richter das Verfahren ein, da die Straftaten angeblich verjährt waren.
Mario S. gab jedoch nicht auf, und drei Jahre später hob der Bundesgerichtshof dieses Urteil auf und ordnete einen neuen Prozess vor dem Leipziger Landgericht an.
Leider brachte auch dieses Verfahren keine Genugtuung für die Opfer. Der Prozess wurde gegen Zahlung minimaler Geldbußen eingestellt.
Ich verstehe nicht, wie die Staatsanwaltschaft so etwas vorschlagen konnte! Die Opfer wurden nicht einmal vernommen, angeblich damit ihnen die »unangenehme Konfrontation« und »schwierige persönliche Befragungen« erspart blieben. Wie findest Du das?
Der Richter begründete die Entscheidung damit, dass die Taten schon lange zurücklägen und dass die juristischen Auseinandersetzungen nun schon neun Jahre andauerten.
Was ich aber am ärgsten finde, ist das, was danach geschah. Wenn Du denkst, die Heimerzieher von Meerane hätten irgendeine Art von Schuldbewusstsein entwickelt, hast Du Dich geschnitten. Ganz im Gegenteil.
Von den fünf Angeklagten hat einer noch lange danach im Heim gearbeitet, soweit ich weiß, bis mindestens 2005. Ein Zweiter war bis 1997 als Heimleiter tätig gewesen. Zwar musste er diesen Posten dann aufgrund der Ermittlungen räumen, war
aber noch lange danach in dem Gebäude aktiv – er leitet den Förderverein, der dem mittlerweile diakonischen Kinderheim vorsteht.
Der Dritte, der unter anderem einem Kind eine Gitarre auf den Kopf geschlagen haben soll, war mehr als zehn Jahre lang stellvertretender Bürgermeister von Meerane. Das ist doch der Knaller, nicht? Die Kinderschänder machen auch noch Karriere.
Die unsichtbaren Druckstellen an Matthias’ Hals schmerzten. Sebastian Wallau wusste gar nicht, wie sehr er den Nagel auf den Kopf traf. Leider konnte er seinem Brieffreund momentan noch nicht schreiben, dass es eine funktionierende Methode gab, die Scheusale zu einem Eingeständnis ihrer Schuld zu zwingen, auch wenn diese mit dem Tod der Betroffenen endete. Nur kurz dachte er darüber nach, die Schurken aus Meerane auch mit in seine Liste aufzunehmen, entschied sich aber dagegen. Seine Erzieher gingen vor, Menschen, zu denen er einen Bezug herstellen konnte, Menschen, die ihm oder Mandy persönlich etwas angetan hatten. Später würde man sehen, ob es eine Gelegenheit gab, sich weiteren Schuldigen zuzuwenden.
Das Gefühl, es sei überall so wie bei ihm oder in Meerane gewesen, wuchs. Sicherlich war das geschilderte Beispiel nicht das einzige, in dem die Peiniger von damals ungeschoren davonkamen.
Lieber Matthias, Du hattest mich in Deiner letzten Mail gefragt, ob ich Dir Kontakt zu anderen Ehemaligen verschaffen kann.
Ich habe ihnen Deine E-Mail-Adresse geschickt und sie gebeten, mit Dir Kontakt aufzunehmen, weil ich nicht wusste, ob es ihnen recht ist, wenn ich ihre Daten einfach an Dich weitergebe. Ich freue mich auf Deine Antwort,
Dein Sebastian
Matthias spürte sein Herz rasen. Wie von selbst klickte er auf »Beantworten« und fing an, zu schreiben. Er würde Sebastian vorschlagen, gemeinsam eine Liste der Erzieher und Lehrer des Kinderheims »Ernst Thälmann« zusammenzutragen. Dann konnten sie mithilfe anderer Heimkinder die Verfehlungen jedes Einzelnen konkretisieren und Beweise sammeln. Wenn auch nicht jeder alles wissen würde, so wie er selbst sich zum Teil nur bruchstückhaft erinnerte, konnte doch der eine oder andere von ihnen ein paar Puzzleteile beisteuern, die am Ende ein komplettes Bild ergeben würden. Dass einige der ehemaligen Peiniger schon längst bestraft worden waren, brauchte ja jetzt noch keiner zu wissen. Durch die Gemeinschaft würde es ihm gelingen, seine Liste zu erweitern und konkrete Untaten zu erfassen, als Rechtfertigung und Beweismaterial gleichermaßen.
Danach würde er Mandy einen Brief über Rainer Grünkerns plötzliches Ende schreiben und anschließend nach den nächsten Übeltätern fahnden. Matthias lächelte. Das Pulsieren in seinem Kopf hatte nachgelassen.
34
Lara
Weitere Kostenlose Bücher