Sensenmann
sich beeilen zu müssen.
Sein Postaccount zeigte elf neue Nachrichten. Die Hälfte davon war Werbemüll. Aber sein Freund Sebastian Wallau hatte geschrieben. Die Betreffzeile lautete »Ich auch«. Matthias runzelte die Stirn und klickte auf die E-Mail.
Lieber Matthias,
vielen Dank für Deine letzte Mail. Das war ja sehr interessant, was Du mir berichtet hast. Interessant und schrecklich zugleich. Ich weiß nicht, ob es Dich tröstet, aber Du bist nicht der Einzige, dem so etwas widerfahren ist. Auch ich habe dort Abscheuliches erlebt, wenn auch die schlimmsten Sadisten zu meiner Zeit wohl schon weg waren. Dieses Heim war über viele Jahre hinweg ein Hort des unsagbar Bösen, eine Kinderhölle, und niemand hat etwas davon bemerkt.
Matthias las den ersten Absatz noch einmal. Worauf bezog sich Sebastian Wallau mit »Du bist nicht der Einzige, dem so etwas widerfahren ist«? Das klang ja geradewegs so, als wisse er, was Matthias Hase in dem Kinderheim Schreckliches erlebt hatte. Und zwar von ihm selbst, mitgeteilt in seiner letzten E-Mail. Die Worte »schrecklich« und »abscheulich« blendeten aus dem Text heraus, fraßen sich glühend durch sein Gehirn und verstärkten das Aufheulen der Motorsägen-Armada. Schnell rief Matthias den Ordner mit den gesendeten Objekten auf, um zu lesen, was er Sebastian Wallau geantwortet hatte, aber dieser enthielt nicht eine einzige E-Mail. Auch der Papierkorb war leer. Im Kopf pulsierte ein glühender Ball. Er musste eine Antwort verfasst und abgeschickt haben und danach alle Mails, die von ihm selbst stammten, gelöscht haben. Warum erinnerte er sich nicht an den Inhalt? Was hatte er noch alles geschrieben? Langsam erhob sich Matthias. Die Kopfschmerzen würden sich zu einem Taifun auswachsen, wenn er nicht sofort eine Triptan schluckte oder besser gleich zwei. Er spülte sie mit Leitungswasser hinunter und marschierte zurück an seinen Rechner, um den Rest der E-Mail zu lesen.
Seit Deiner Mail überlege ich, was man tun kann, um die Dinge, die damals dort geschehen sind, an die Öffentlichkeit zu bringen. Es reicht sicher nicht, alles auf der Homepage bekanntzumachen, man müsste andere Wege finden.
Ein grelles Blitzlicht flammte in Matthias’ Kopf auf. Das musste er verhindern! Keinesfalls durften die Verbrechen der Heimerzieher jetzt schon publik werden! Nicht nur, dass die Kriminalpolizei dann sofort Parallelen zwischen den Todesfällen ziehen würde, was noch viel schlimmer war: Weitere Erzieher, die er noch nicht bestraft hatte, wären dann gewarnt. Matthias schmeckte den bitteren Nachgeschmack der zwei Migränetabletten,
während er grübelte, wie er dem Brieffreund das Vorhaben ausreden konnte. Vielleicht sollte er ihm vorschlagen, zuerst einmal alles zusammenzutragen und Bestätigungen und Zeugen aufzulisten. Sonst würde genau das geschehen, was mit den Verbrechern in dem Kinderheim auf Jersey passiert war, Beweise würden verschwinden, Menschen sich an nichts erinnern, alles verliefe im Sande. Verjährte der Missbrauch von Kindern eigentlich? Sein Blick kehrte auf den Bildschirm zurück, und er sah, dass Sebastian Wallau selbst zweifelte, mit der Aufdeckung der Schandtaten etwas erreichen zu können.
Warum ich mich nicht längst an die Polizei gewendet habe, fragst Du vielleicht? Nun, ich schäme mich. Schäme mich für das, was mir widerfahren ist, auch wenn ich weiß, dass ich keine Schuld daran trage. Was mich aber noch mehr abschreckt, sind ähnliche Fälle, in denen bereits Verfahren stattgefunden haben. Von Meerane hast Du doch sicher gehört? Das Kinderheim »Erich Hartung« war ganz in unserer Nähe.
Es war ein sogenanntes Spezialkinderheim, in dem verhaltensauffällige und angeblich schwer erziehbare Jugendliche lebten. Ein einstiges Heimkind, Mario S., ist als Hauptbelastungszeuge aufgetreten, drei weitere Ehemalige haben sich ihm angeschlossen. Die Erzieher dort haben die Kinder misshandelt: Stockschläge in die Kniekehlen, »Entengang«, stundenlanges Strammstehen, Reinigen von Toiletten mit Zahnbürsten.
Sie haben Kindern den Kopf in die Kloschüssel gedrückt und die Spülung gezogen. Auch sexuellen Missbrauch soll es gegeben haben. Und – was mich am meisten mitgenommen hat – auch in diesem Kinderheim gab es eine Arrestzelle im Keller, fünf mal fünf Meter groß. Erinnert Dich das an irgendetwas?
Matthias spürte das Hämmern hinter seiner Stirn wie einen Vorschlaghammer. Das Triptan schien heute überhaupt keine
Wirkung zu zeigen. Er
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