Sensenmann
Schluck und reichte die Flasche an den Freund weiter.
»Lara?«
»Äh … Entschuldigung. Ich war gerade in Gedanken. Wollen wir essen gehen? Na klar, warum nicht? Wann denn?«
»Heute ist Dienstag. Ich denke, du hast auch die ganze Woche über viel zu tun. Wie wäre es mit Freitag?« Da sie schwieg, setzte er schnell hinzu: »Oder Sonnabend?«
»Sonnabend ist mir lieber. Wohin denn?« Lara wusste, dass sie einen Fehler machte – und doch gelang es ihr nicht, das Treffen abzuwiegeln. Allerdings, was wäre, wenn Schädlich bis dahin neue Informationen hatte? In einem Restaurant bei einem Glas Wein war er sicher redseliger als am Telefon.
»Warst du schon mal im Domizil ?«
»Das kenne ich. Es ist sehr schön da. Gute italienische Küche.«
»Super, dann fahren wir dorthin.« Man konnte Ralf Schädlich die Freude anhören, und Laras schlechtes Gewissen blähte sich auf wie ein überdehnter Ballon.
»Um neunzehn Uhr? Soll ich dich abholen?«
»Nein, das ist nicht nötig. Wir treffen uns dort.« Das würde sie davon abhalten, Alkohol zu trinken, und so entging sie wenigstens der Peinlichkeit, sich von dem Kripomann wieder nach Hause fahren lassen zu müssen.
»Na gut. Dann bis Sonnabend! Ich freu mich.« Klick. Kriminalobermeister Schädlich hatte aufgelegt. Was war bloß aus ihren Prinzipien geworden?
Lara sah noch einmal zu den fünf Schwarzgekleideten hinüber, checkte ihr Diktiergerät und stieg aus. Was tat sie eigentlich hier? Die Jugendlichen hatten schon vor zwei Wochen nichts gewusst, keiner von ihnen hatte etwas gesehen oder gehört. Wahrscheinlich waren sie sowieso den ganzen Tag zu betrunken, um sich etwas merken zu können, aber einen letzten Versuch war es noch wert. Und was Schädlich betraf: Noch war nichts passiert. Sie konnte das vermeintliche Date jederzeit absagen.
Die Regenwolken hatten sich verzogen und einem hypnoseblauen Himmel Platz gemacht. In der frischgewaschenen Luft lag ein Geruch nach sauberem Leinen. Langsam ging sie zu den Jugendlichen hinüber.
»Hallo Sie!« Ein kurzes Kläffen ertönte. Lara drehte sich um. Zuerst sah sie den struppigen weißen Hund, der an seiner Leine zerrte, dann fiel ihr Blick auf die alte Frau, die heftig winkte. Hinter
sich zog sie einen Einkaufstrolley. »Frau Birke! Von der Zeitung!« Kein Zweifel, die Alte in Jogginghosen und Flauschjacke meinte sie. Noch ehe sie ganz heran war, hatte Lara einen Geistesblitz und sah sich in einer Küche mit bejahrter Einrichtung sitzen und mit der Frau Kaffee trinken.
»Ich heiße Birken feld . Guten Tag, Frau Ehrsam. So trifft man sich wieder.«
»Sie waren doch bei mir, um mich zu dieser Leiche zu befragen, und haben mir Ihr Kärtchen dagelassen. Struppi, hör auf damit!« Die Alte zog an der Leine, um den Hund von Laras Hosenbeinen, die er ausgiebig beschnüffelte, fernzuhalten. »Ich habe jeden Tag nachgeschaut, ob Sie etwas dazu geschrieben haben, aber unter den Artikeln stand nie Ihr Name!«
»Mein Kollege hat die Berichterstattung übernommen.«
»Aha. Und jetzt sind Sie wegen der nächsten Leiche hier?« Die Alte senkte die Stimme. »Der ältere Herr, der gleich hier um die Ecke, nur zwei Straßen weiter, in seiner Wohnung ermordet wurde?«
»Im Prinzip schon. Kannten Sie das Opfer?«
»Flüchtig. Ich kannte ihn flüchtig.« Frau Ehrsam rückte an ihrer Brille.
»Darf ich Ihnen dazu ein paar Fragen stellen?« Lara schaute zu dem Schild der Bäckereifiliale neben der Eingangstür des Supermarktes. »Ich spendiere Ihnen einen Kaffee.«
»Hm.« Die Alte kratzte sich ausgiebig unter der rechten Brust. »Ich müsste Struppi draußen anbinden.« Sie blickte zu dem Hund, der sein Interesse inzwischen undefinierbaren Überresten in einer Betonfuge zugewandt hatte. »Aber das ist er ja gewöhnt. Komm, Struppi!« Mit einem Ruck zog sie das Tier zu sich heran und schlurfte dann zum Eingang.
»Grünkern hieß er also. Den Vornamen wissen Sie nicht?«
»Nein.« Frau Ehrsam schüttelte den Kopf. »Viele wohnen schon
dreißig Jahre oder länger hier. Wir sind zusammen alt geworden. Aber ich kenne natürlich nicht jeden. Den Herrn Grünkern habe ich immer beim Spazierengehen mit meinem Struppi getroffen.« Sie blickte schnell nach draußen, wo ihr Hund mit hängendem Kopf wartete. »Er geht immer mit seinen Stöcken wandern, Warrking nennt man das wohl. Jeden Tag. Hinten an den Heizhäusern vorbei und dann runter zum Wäldchen. Da gehe ich mit Struppi auch oft hin. Es ist schöner als hier zwischen den
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