Sensenmann
Hochhäusern.« Die Alte entblößte beim Lächeln schiefe Zähne. Sie hatte tatsächlich »Warrking« statt Walking gesagt. Lara lächelte auch.
»Man trifft immer die Gleichen. Manchmal schwatzt man dann auch ein bisschen.«
»Und so haben Sie auch Herrn Grünkern kennengelernt.«
»Na ja, richtig kennengelernt habe ich ihn nicht. Er hatte ja nie Zeit für ein Schwätzchen, weil er immer gelaufen ist. Stehen bleiben wollte er nicht. ›Da kommt man aus dem Rhythmus‹, waren seine Worte. Aber eine Bekannte von mir wohnt mit ihm im selben Haus.« Frau Ehrsam runzelte kurz die Stirn und setzte hinzu: »Ich sollte wohl besser sagen ›hat gewohnt‹.«
»Aha. Das ist ja interessant! Was wissen Sie denn noch über Herrn Grünkern?«
»Er ist… war ein seriöser Mann. Hat immer höflich gegrüßt und sehr zurückgezogen gelebt. Es gab nie Ärger mit den anderen Hausbewohnern, soweit ich weiß. Er hat die Hausordnung immer pünktlich und ordentlich erledigt.«
»War er alleinstehend?« Eigentlich erübrigte sich die Frage. Welcher verheiratete Mann machte schon die Hausordnung selbst?
»Ich glaube schon.«
»Vielleicht könnte ich mal mit Ihrer Bekannten sprechen?«
»Meinen Sie, das bringt was?« Die Alte schien ein wenig beleidigt zu sein, dass nicht mehr sie selbst im Fokus stand.
»Das weiß ich nicht. Aber ich bräuchte noch ein paar Hintergrundinformationen über den Toten. Womöglich hat sie auch
etwas beobachtet.« Lara fand, dass sie sich schon anhörte wie einer dieser unsäglichen Privatdetektive aus dem Fernsehen. Aber ohne zusätzliche Angaben würde eine Recherche über das Opfer schwierig werden, zumal es anscheinend keine näheren Verwandten gab, die man hätte befragen können.
»Wir könnten uns auch zusammensetzen, Ihre Bekannte, Sie und ich. Wie heißt sie denn?«
»Leonie Stengel.«
Nachdem Lara noch ein bisschen Überzeugungsarbeit geleistet hatte, gab Frau Ehrsam nach und versprach, ihre Freundin anzurufen und ein Treffen zu vereinbaren. Sie bestand jedoch darauf, es in ihrer Wohnung durchzuführen. Lara war das recht. Wenn es stimmte, dass diese Leonie Stengel im Haus des Ermordeten wohnte, war es riskant, dort aufzutauchen, denn sie hatte dort nichts verloren. Wenn überhaupt, dann würde Tom Fränkel über den Fall berichten und nicht sie. Und im Normalfall reisten die Redakteure auch nicht in der Weltgeschichte herum und beschafften sich ihre Informationen, indem sie selbst nach Zeugen suchten und sie befragten. Aber das hier war auch kein Normalfall. Sie musste besser sein als Tom und vor ihm herausfinden, was die beiden Todesfälle verknüpfte.
36
Donnerstag, der 06.08.
Liebe Mandy,
nun haben wir schon August. Die Zeit vergeht wie im Flug.
Ich komme gut voran.
Inzwischen weiß ich auch, dass es keine Alternative zu meiner Methode gibt, denn Sebastian Wallau hat mir von einem
Gerichtsverfahren gegen ehemalige Erzieher aus einem Kinderheim in Meerane (ganz in unserer Nähe – gruselig, nicht?) berichtet. Obwohl es mehrere Zeugen für Missbrauch und körperliche Misshandlungen gab, wurde der erste Prozess wegen Verjährung eingestellt, und in der Berufung bekamen einige der Täter lediglich geringfügige Geldstrafen. Manche arbeiteten sogar weiter in diesem Heim, und einer von ihnen war zehn Jahre lang stellvertretender Bürgermeister!
Du bist bestimmt genauso empört wie ich, meine Kleine. Ich denke aber, da steckt Methode dahinter. Sicher kannst Du Dir vorstellen, was in unserem Fall geschehen würde, falls wir die Verbrecher anzeigten. Auch sie kämen mit einem blauen Auge davon, wenn es überhaupt zu einer Verurteilung reichen würde. Weil für solche Leute eine Geldbuße eine viel zu geringe Strafe wäre, müssen sie außerhalb der Gesetzlichkeit bestraft werden, da stimmst Du mir doch sicher zu, nicht?
Und wenn alles vorbei ist, wenn ich alle gefunden habe, können wir uns endlich in die Arme schließen und werden Ruhe finden. Wir und all die anderen Kinder aus dem Heim »Ernst Thälmann«.
Nun aber zu den neuesten Ereignissen!
Im letzten Brief hatte ich Dir ja schon geschrieben, dass die Sagorski mir den Namen ihres Vorgängers verraten hat: Rainer Grünkern. Zuerst konnte ich mich gar nicht an ihn erinnern, obwohl dieser Mann viele Jahre als Heimleiter tätig gewesen war, auch in unserer Zeit. Mein Unterbewusstsein hatte alles fein säuberlich verdrängt. Aber so einfach lässt sich ein Matthias Hase nicht abspeisen! Ähnliche Vorfälle in einem
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