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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
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Sandmann sich unter der Decke verkrampfte. Ihre Stirn bekam ein paar Falten, und sie kniff die Lider fester zusammen. Anscheinend wusste ihr Körper schon, was auf dem nächsten Foto zu sehen sein würde. Es dauerte einige Minuten, bis er sie wieder in den entspannten Zustand zurückgeführt hatte. »Es ist alles gut. Nichts kann passieren. Du bist hier ganz sicher. Und nun blättern wir um und schauen uns das nächste Bild an. Was siehst du?«
    »Haus. Kinder. Tante mit Schürze.«
    »Kennst du die Leute auf dem Bild?«
    »Nein. Kenne ich nicht.«
    Mark war sich sicher, dass sie den einschneidenden Moment gefunden hatten. Er ging die nächsten Fotos mit ihr durch, und es zeigte sich, dass er recht hatte. Die Mama tauchte nicht wieder auf, stattdessen irgendwelche »Tanten« und auch ein paar »Onkel«, eine Menge fremde Kinder, ein unbekanntes Haus. Ziemlich sicher war Maria Sandmann irgendwann im Laufe des Jahres 1971 ins Kinderheim gekommen. Sie wussten zwar noch nicht, weshalb, aber dies war zumindest ein Anfang, ein loser Faden, an dem sie beginnen konnten, das Knäuel zu entwirren. Mark blickte kurz auf seine Uhr. Er hatte noch eine Viertelstunde inklusive Rückführung und Nachbesprechung. Die Patientin befand sich noch immer in tiefer Hypnose, und so beschloss er, zum Abschluss noch einen Blick auf ein späteres Jahr ihrer Kindheit zu werfen.
    Im Nachhinein sagte er sich, dass er die Reaktion hätte vorhersehen müssen, es war schließlich schon die ganze Zeit absehbar gewesen, dass bei Maria Sandmann entsetzliche Erlebnisse im Verborgenen liegen mussten, aber sie hatte so ruhig gewirkt, dass er sich hatte täuschen lassen.
    Mark ließ sie das Fotoalbum von 1975 öffnen. Er konnte später nicht erklären, was ihn dazu gebracht hatte, gerade dieses
Jahr zu wählen. Er hieß die Patientin, das erste Bild anzuschauen, und fast im selben Moment begann sie, konvulsivisch zu zucken und vor sich hin zu stammeln. »Nein, nein … das Fischgesicht kommt. Hilf mir … Nicht mich … Nein, nicht da runter!« Die Kinderstimme wurde lauter, schrie fast. »Ich war’s nicht. Bitte nicht, Herr Meller! Nicht in das Toilettenbecken, o nein …« Gurgeln, Röcheln. Maria Sandmann strampelte unter der Wolldecke.
    Mark brauchte eine Sekunde der Besinnung. Dann begann er damit, ihr das Fotoalbum und die aufgewühlten Erinnerungen fortzunehmen. Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte und wieder auf seine Suggestionen reagierte.
    »Ich werde Sie jetzt wieder aus der Hypnose zurückführen, wobei ich von zehn bis eins zählen werde. Bei ›eins‹ können Sie die Augen wieder öffnen und fühlen sich ganz frisch und munter. Zehn  – Ihre Beine werden wieder ganz frei und leicht, die Müdigkeit beginnt zu weichen. Neun  – Ihr Unterleib wird ganz leicht, die wohltuende innere Ruhe bleibt auch nach der Hypnose im Nervensystem erhalten. Acht  – der Oberkörper wird ganz frei und leicht, die Müdigkeit weicht. Jede weitere Hypnose wird Sie ganz einfach und immer tiefer in diesen angenehmen Ruhezustand führen … Eins  – Sie fühlen sich erfrischt und wohl, auch die Lider werden wieder ganz leicht und frei und können gut geöffnet werden.« Maria Sandmann schlug die Augen auf und räkelte sich. Dann sah sie sich im Behandlungsraum um. Mark ließ ihr ein paar Sekunden Zeit, sich zurechtzufinden, ehe er sprach. »Nun haben wir die zweite vertiefte Ruhebehandlung durchgeführt. War es so, wie Sie es sich vorgestellt haben? Wie haben Sie es empfunden?«
    »Ich erinnere mich an nichts. Nur dass es mir gut geht. Ich fühle mich frei und unbeschwert.«
    »Das ist wunderbar.«
    »Was ist denn passiert? Haben Sie etwas erfahren?«

    »Das habe ich. Wir waren in Ihrer Vergangenheit.« Mark sah, wie sie die Kaumuskeln anspannte. »Was … was haben Sie gesehen?«
    »Wahrscheinlich sind Sie 1971 ins Kinderheim gekommen. Deswegen entsinnen Sie sich dessen auch nicht mehr. Sie waren erst drei.«
    »Warum bin ich dahin gebracht worden?«
    »Das scheinen Sie nicht zu wissen.«
    »Ach?«
    »Wir können gern in einer der nächsten Sitzungen noch einmal danach forschen, aber wahrscheinlich ist Ihnen der Grund dafür tatsächlich nicht bekannt.«
    »Haben Sie sonst noch etwas herausgefunden, was ich wissen sollte?« Maria Sandmann klang jetzt bestimmter. Sie hatte sich aufgesetzt, ihre Augen funkelten kämpferisch.
    »Nichts Bedeutsames.« Noch war sie nicht so weit, die Ereignisse bewusst aufnehmen zu

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