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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
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Zugriff von außen wehrte. Mark Grünthal hatte es erst zweimal erlebt, dass Patienten, statt in einen vertieften Ruhezustand zu gelangen, einfach einschliefen. Es war die letzte Bastion einer
verletzten Psyche, sich vor der Preisgabe unerträglicher Erinnerungen zu schützen. Eine Heilung war jedoch nur möglich, wenn die verborgenen Inhalte ganz behutsam aufgedeckt und verarbeitet wurden.
    Außerdem hatte Maria Sandmann davon gesprochen, Warnungen von ihrem Unterbewusstsein zu erhalten. Sie hörte Stimmen, schlafwandelte und hatte Gedächtnislücken. Die geschilderte Episode mit dem Sushi-Messer durfte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Es war dabei gleichgültig, ob sie sich wirklich ereignet hatte oder nur in der Fantasie der Patientin existierte. Sie signalisierte Selbstmordgedanken. So etwas konnte schneller eskalieren, als man sich gemeinhin vorstellte. Mark schlug das siebenhundert Seiten starke Handbuch der Hypnose zu und brachte es zurück zum Bücherregal. Noch einmal überdachte er sein Vorgehen. Er würde für eine ausreichende Hypnosetiefe die Vier-Schritt-Strategie anwenden müssen.
    Er hatte Maria Sandmann einen Folgetermin gleich an diesem Montag empfohlen und ihr seine Handynummer gegeben, weil er sich Sorgen machte, aber sie hatte nicht angerufen. Mark wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, aber das würde sich in wenigen Minuten zeigen. Er klappte die Akte zu.
    Die Wechselsprechanlage blinkte. Schwester Annemarie kündigte an, dass Frau Sandmann eingetroffen sei, und Mark ging zur Tür, um sie zu begrüßen.
    Die Hand der Patientin war kühl, ihr Händedruck fest. Im Gesicht hatten sich feine Fältchen eingegraben, die letzte Woche noch nicht da gewesen waren. Mark wandte den Blick ab, um ihr nicht das Gefühl zu geben, sie werde inspiziert, und ging voran zum Tisch. Die Augenringe deuteten darauf hin, dass sie am Wochenende wenig Schlaf bekommen hatte. Sie setzte sich wie beim letzten Mal, den Rücken ganz gerade, die Handtasche auf den Knien.

    »Bevor wir mit der vertieften Ruhebehandlung anfangen«, Mark hatte sich entschieden, das Wort »Hypnose« nicht mehr zu verwenden, weil es die Patientin zu erschrecken schien, »besprechen wir zuerst die zurückliegenden beiden Tage. Haben Sie Aufzeichnungen gemacht?«
    »J… ja.« Mia Sandmann zögerte, ehe sie in ihre Tasche schaute und das Notizbuch herausholte. »Es ist bloß …« Ihre Finger glitten wie suchend über den Einband. »Ich kann mich gar nicht erinnern, es geschrieben zu haben. Es sind größtenteils Beleidigungen.«
    »Kann ich es sehen?« Zögerlich reichte sie ihm das Büchlein herüber, und Mark schlug es auf. Die Seiten mit Flashbacks enthielten nichts, was er nicht schon wusste. Auch bei Träumen und Stimmen gab es seit Maria Sandmanns letztem Besuch keine weiteren Eintragungen. Er blätterte weiter zu Sonstiges . Rote Buchstaben leuchteten auf dem elfenbeinfarbenen Papier. Mia Sandmann ist eine Schlampe! Sie hurt herum und wirft sich Kerlen an den Hals! Nutte! Widerliches Drecksstück! Sieh zu, dass das aufhört! Schäm dich! So ging das über zwei Seiten.
    Mark schaute kurz zu seiner Patientin, die ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte, als warte sie auf ein Urteil. Dann blätterte er zurück und verglich die Eintragungen. Die Schrift unterschied sich. Hatte Mia Sandmann alle vorhergehenden Notizen in einer sehr geradlinigen, sauberen Form verfasst, bei der alle Wörter gut lesbar waren, die Wortabstände einheitlich und der Fluss ebenmäßig, so zeigte sich bei den leuchtend roten Sätzen eine schwungvolle, nach rechts geneigte Schrift mit druckvoll ausgeführten Buchstaben, die auffallende Über- und Unterlängen besaßen.
    »Und Sie haben keine Erinnerung daran, das geschrieben zu haben?«
    »Nein. Gestern stand es noch nicht drin, und als ich das Buch vorhin einstecken wollte, hatte jemand diese Sätze hineingeschrieben. Vielleicht ist es wieder im Schlaf passiert?«

    »Das kann durchaus sein, Frau Sandmann. Was glauben Sie, hat das zu bedeuten?«
    »Na ja …« Mark konnte sehen, wie sie sich auf die Innenseite der Unterlippe biss, ehe sie fortsetzte. »Ich gehe doch seit zwei Wochen mit diesem Journalisten aus. Vielleicht ist es das.«
    »Ihr Unterbewusstsein scheint etwas dagegen zu haben.«
    »Ich habe genauso ein Recht auf Geselligkeit wie alle anderen!« Mia Sandmanns Augen blitzten bei diesen Worten. »Deshalb bin ich noch lange keine Hure! Und verbieten lasse ich mir das auch

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