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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
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wenn man der Patientin suggerierte, dass sie nach der Hypnose alles wieder vergessen sollte, blieben doch Spuren seines Eingreifens in ihrem Unterbewusstsein zurück, die nachwirken konnten. Und er wollte keinesfalls weitere Suizidversuche oder andere autoaggressive Handlungen provozieren.
    »Jetzt sehen Sie den Zeitstrahl vor sich. Der Zeiger ist auf das heutige Datum gerichtet. Können Sie es erkennen?« Ein weiteres dünnes »Ja«.
    »Sehr gut. Nun bewegt sich der Zeiger ganz langsam nach links zum vorhergehenden Jahr: 2009. Von dort aus gleitet er weiter zu 2008. Sie sehen jetzt die Jahreszahl 2007. Und weiter rutscht der Jahreszeiger rückwärts. Sie gehen jetzt in das Jahr
2006 zurück. Die Jahreszahlen ticken an Ihnen vorbei wie auf einer Schautafel … 1999, 1998, 1987 …« Mark beobachtete das Gesicht der Patientin. Ihre Augen huschten hinter den halbgeschlossenen Lidern hin und her, als verfolgten sie den Zeitstrahl.
    »Nun verändern sich die Ziffern immer langsamer. Der Jahreszeiger bewegt sich nur noch ganz gemächlich rückwärts.« Mark veränderte seinen Sprechrhythmus, sprach die Zahlen bedächtiger aus. »1972, 1971. Nun sind wir im Jahr 1970 angekommen. Jetzt können Sie das Fotoalbum vor sich sehen, in dem die Bilder des Jahres 1970 sind.« Mia Sandmann war 1968 geboren. Ihr Wachbewusstsein wusste nicht, wann sie in das Kinderheim gekommen war. Mark hatte sich entschlossen, es zuerst mit 1970 zu versuchen. Weiter zurückzugehen, hatte nicht viel Sinn. Zwar war im Gehirn alles gespeichert, auch die Erinnerungen aus frühester Kindheit, sogar aus der Babyzeit, aber man konnte sie nicht verständlich abrufen. Der Befragte befand sich immer gerade in dem Alter, in das er ihn zurückversetzt hatte, und verfügte demzufolge auch nur über die dazugehörigen Ausdrucksmöglichkeiten. Eine Zweijährige verstand zum großen Teil, was er fragte, wenn es mit einfachen Worten geschah, und konnte sich schon ein wenig artikulieren. Die Patientin war jetzt ein zwei Jahre altes Mädchen im Jahr 1970.
    »Siehst du das Bilderbuch vor dir?«
    »J… Ja.« Ein Kleinmädchen-Ja, ganz leise und schüchtern. Auch Mia Sandmanns Gesichtszüge besaßen jetzt etwas Weiches, Kindliches. Alle Fältchen schienen verschwunden, die Haut hatte einen rosigen Schimmer.
    »Sehr schön. Du nimmst es in die Hände und schlägst es auf. Ganz vorsichtig.« Er hatte als Unterstützung für die Gedächtnisinhalte das Fotoalbum gewählt. Bei weniger diffizilen Fällen konnte man die Erinnerungen auch als Film in einem Kino ablaufen lassen, bei dem der Befragte als Betrachter im Zuschauerraum saß, aber das war in diesem Fall zu gefährlich, weil belebte
Bilder der Psyche realer vorkamen. Da er noch nicht wusste, was in Maria Sandmanns Kopf alles verborgen war, hatte er statische Darstellungen gewählt.
    »Betrachte nun die erste Seite.« Mark beobachtete den Gesichtsausdruck der Patientin. Sie lächelte.
    »Was siehst du?«
    »Wauwau.«
    »Einen Wauwau, sehr schön. Was ist noch auf dem Bild?«
    »M… M…«
    »Mia?«
    »Nee! M…ama!« Jetzt hatte sie es heraus.
    »Ist noch jemand da?«
    »Wauwau, Mama.« Sie setzte noch etwas hinzu, das wie »Gadda« klang. Mark hatte keine Ahnung, was sie damit meinte. Nachfragen würde nicht viel bringen. Die zweijährige Mia Sandmann wusste zwar, was »Gadda« war, konnte es aber nicht besser ausdrücken. Das war das Problem bei der Sache. Die ganz Kleinen waren noch nicht in der Lage, sich deutlich zu artikulieren, und manchmal verstand man nicht, was sie meinten.
    »Du machst das toll. Nun wollen wir einmal umblättern und uns das nächste Bild anschauen. Was siehst du jetzt?«
    »Ball. Mimi Ball werf.« Eine Mimi, die einen Ball warf. Mark ließ sie noch mehrere Fotos des Jahres 1970 mit ihrer Zwitscherstimme kommentieren. Alle schienen von einem normalen Alltag zu künden, soweit er das Gesagte verstand. Die Mutter kam mehrmals vor, ein Vater dagegen nicht. Keine außergewöhnlichen Ereignisse. Maria Sandmann schien zufrieden und glücklich zu sein. Mark beschloss, es mit 1971 zu versuchen. Er vertiefte noch einmal die Ruhesuggestion für das emotionale System, um ihre Gefühle zu beruhigen, und ließ sie dann das Album mit der Jahreszahl 1971 zur Hand nehmen und aufschlagen. Die ersten Bilder kommentierte sie  – jetzt mit deutlich größerem Wortschatz  – noch wie eben. Es kamen »Drachensteigen«, »Pilzesuchen«
und »Kindergarten« vor. Etwa bei Seite acht spürte Mark, wie Maria

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