Sensenmann
nicht! Von niemandem!«
»Keiner verbietet Ihnen, mit einem Mann auszugehen.« Mark hörte sich selbst zu. Er klang väterlich. »Selbstverständlich dürfen Sie sich amüsieren. Dagegen ist überhaupt nichts einzuwenden.«
»Anscheinend doch!«
»Sie dürfen sich selbst keine Vorwürfe machen. Nehmen Sie das nicht so ernst. Es sind affektive Aufwallungen, Gefühlsausbrüche. Das kommt bei allen Menschen vor, nicht jeder schreibt es allerdings auch auf. Gab es sonst irgendwelche Vorfälle am Sonnabend und Sonntag, von denen Sie mir berichten möchten? Erneutes Schlafwandeln, Messer an ungewöhnlichen Stellen, andere Dinge?«
»Nichts. Außer dass ich fast das ganze Wochenende verschlafen habe. Ich glaube, ich habe die Schlafkrankheit.« Jetzt lächelte sie ein schüchternes Kinderlächeln.
»Sie wirken ein bisschen erschöpft. Aber ich glaube nicht, dass Sie ernsthaft krank sind.« Mark gab ihr das Notizbuch zurück. »Schreiben Sie auch weiterhin alles auf.« Maria Sandmann steckte ihre Aufzeichnungen in die Tasche.
»Dann wollen wir jetzt zum eigentlichen Teil kommen.« Bei diesen Worten zuckte Maria Sandmann sichtbar zusammen. »Das letzte Mal haben Sie sich wunderbar bis in die Entspannung führen lassen. Heute versuchen wir, einen Schritt weiterzugehen.
« Mark würde ihr nicht sagen, dass die Hypnose am Freitag nicht funktioniert hatte, um keine negative Erwartungshaltung zu erzeugen. Sie sollte das Gefühl haben, alles laufe nach Plan. »Wenn Sie nicht mit mir allein arbeiten wollen, können wir auch Schwester Annemarie bitten, hinzuzukommen.«
»Es … es wird schon gehen.«
»Fein. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich unsere Sitzung aufzeichne?«
»N … nein.« Ihre Stimme klang jetzt kindlicher als vorhin und ein wenig verängstigt. »Warum wollen Sie das tun?«
»Ich kann mich so ganz auf Sie konzentrieren und muss während Ihrer Ruhebehandlung nichts mitschreiben.«
»Aha?«
»Keine Angst. Alles unterliegt der ärztlichen Schweigepflicht.«
»Na gut.« Ganz überzeugt klang Maria Sandmann noch nicht, aber sie würde ganz schnell vergessen, dass da eine Kamera war, die alles aufnahm, und für Mark war es im Nachhinein viel einfacher, die Ereignisse in der Hypnose auszuwerten. Sie erhob sich, ohne dass er sie dazu auffordern musste, ging zur Couch, legte sich hin und zog sich wie beim letzten Mal die Decke bis zum Kinn. Heute brauchte sie nur wenige Minuten, bis das Vibrieren der Lider einsetzte. Das war normal, weil das Unterbewusstsein die Einleitungsphase schon kannte und sich so leichter führen ließ. Mark ließ sie die Augen schließen und begann mit Phase eins, der bildhaften Vertiefung des Ruhezustandes. Dieses Mal glitt Mia Sandmann nicht in den Schlaf ab, sondern blieb seiner Lenkung zugänglich. Ihre Augäpfel begannen, hin und her zu zucken, und ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. Mark formte mit beiden Handflächen eine Schale, ließ sie in einigen Zentimetern Abstand über der Stirn der Patientin schweben und suggerierte ihr dabei die von den Händen ausgehende Wärme und Ruhe. Die Fußspitzen der Patientin kippten auseinander. Ein Zeichen für Muskelentspannung. Er hatte sich mit ihr auf verbale Antworten
geeinigt. Das bedeutete, dass sie mit ihm sprechen würde, statt Zeichen zu geben. Zeichen hatten den Nachteil, dass man seine Fragen im Ja-Nein-Modus formulieren musste. Eine tiefgründige Analyse war so kaum möglich. Mark betrachtete die Patientin. Ganz entspannt lag sie da, die Arme locker neben dem Körper. Ihr Brustkorb unter der Decke hob und senkte sich regelmäßig. Die Augen bewegten sich unter den Lidern von links nach rechts. Mia Sandmann war so weit.
»Wenn ich Ihnen Fragen stellen werde, können Sie ganz frei und gelöst antworten. Sie können alles aussprechen, was Ihnen in den Sinn kommt; alles, was Sie sehen, denken, fühlen. Alles ist richtig , alles gilt, egal, was es ist. Verstehen Sie das?«
Er wartete auf ein Zeichen, dass ihr Unterbewusstsein die Botschaft verstanden hatte, und als sie mit einem schwachen »Ja« antwortete, setzte er fort. Mark hatte sich entschieden, Maria Sandmann in ihre Vergangenheit zurückzuführen. Zuerst in die Zeit vor dem Kinderheim – nach ihren Angaben war sie dabei noch sehr klein gewesen –, dann in die darauffolgenden Jahre. Aufgrund ihrer Aufzeichnungen und Flashbacks hatte er einige Anhaltspunkte, die er abfragen konnte. Er würde sehr vorsichtig vorgehen müssen, um nicht zu viel auf einmal aufzudecken. Auch
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