Sensenmann
schnarrenden »Ja, bitte?«.
Im zweiten Stock blieben sie vor der Tür stehen. Jo schnaufte heftig, und auch Lara rang nach Luft. Mark zögerte kurz und drehte sich dann zu Jo und Lara um. »Geht ein bisschen zurück, bitte. Wenn Maria Sandmann die Tür aufmacht, soll sie nicht gleich vom Anblick dreier Leute erschlagen werden. Ich denke, zu mir hat sie inzwischen Vertrauen, also soll sie zuerst mich wahrnehmen.«
Wenn sie die Tür aufmacht. Lara dachte den Satz nur, während sie zusah, wie Mark den Klingelknopf drückte. Danach warteten sie, hielten die Luft an und lauschten. Mark klingelte noch einmal, etwas länger jetzt. Nichts geschah. Ein drittes Summen. Dann begann Mark, an das Holz des Rahmens zu klopfen, und rief: »Frau Sandmann? Herr Schweizer? Ich bin’s, Mark Grünthal. Bitte öffnen Sie!« Er legte das Ohr an die Tür und horchte. Dann flüsterte er aus dem Mundwinkel: »Sie ist da drin. Ich höre es rascheln.« Dann lauter: »Frau Sandmann! Machen Sie die Tür auf! Ich will Ihnen helfen!«
Von oben schrie jemand »Ruhe da unten, elendes Pack!« herunter, dann wurde eine Tür heftig zugeworfen.
Mark klingelte noch einmal. Lara bekam noch immer keine Luft, obwohl so ein paar Treppen sie eigentlich nicht so schnell außer Atem brachten. Als sie es kaum noch erwarteten, öffnete die Tür sich einen Spalt breit und Maria Sandmann lugte heraus. »Gehen Sie bitte.« Sie flüsterte kaum hörbar.
»Frau Sandmann, Sie haben mich vor wenigen Minuten angerufen und um Hilfe gebeten.« Auch Mark sprach jetzt leise.
»Das habe ich nicht.« Sie schob die Tür langsam wieder zu. Ihr Blick huschte zu Lara, die neben dem Aufgang stand. »Lassen Sie mich in Ruhe. Ich muss nachdenken.«
»Wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen, Mandy .« Mark sprach den Namen betont aus. »Sie brauchen keine Angst vor uns zu haben. Bitte machen Sie die Tür auf.«
Maria Sandmann duckte sich, als erwarte sie einen Schlag, steckte den Daumen in den Mund und biss auf ihm herum. Dann ließ sie die Klinke los und drehte sich zur Seite. Vorsichtig drückte Mark die Tür auf und winkte Lara heran, damit sie ihm folgte. Jo blieb im Eingangsbereich stehen. Maria Sandmann – oder sollten sie besser Mandy Sandmann sagen? – schlurfte wie ein Zombie vor ihnen her. Mark legte den Finger auf die Lippen und sah Lara dabei an. Sie nickte.
»Wo ist Herr Schweizer?«
»Weiß nicht.« Es klang kläglich. Sie blieb in der Tür zur Küche stehen. »Wer ist das?«
»Ihr Freund. Frank Schweizer.« Mark war auch stehen geblieben.
»Hab keinen Freund.«
»Aha. Sind Sie allein in der Wohnung?«
»Weiß nicht.« Wieder wanderte der Daumen in den Mund. Jetzt lutschte sie darauf herum wie ein Baby. Lara verstand nicht, was hier vor sich ging. Bis jetzt hatte sie Maria Sandmann immer entweder als kompetente Jugendamtsmitarbeiterin oder als verliebte, um nicht zu sagen liebestolle Frau erlebt, jedoch noch nie in der Rolle des verwirrten Kleinkindes.
Während Mark noch immer beruhigend auf seine Patientin einredete, fiel ihr Blick auf die fast geschlossene Tür rechts, und Lara wusste nicht, was sie dazu trieb, aber sie stupste dagegen, und die Tür glitt langsam auf. Zuerst realisierte sie nicht, was sie dort erblickte, aber dann erkannte sie mit hellsichtiger Klarheit, dass das, was sie vorhin im Restaurant »gesehen« hatte, keine Halluzination, sondern Realität gewesen war.
Auf den weißen Fliesen vor der Badewanne lag ein zusammengekrümmter Mann halb auf dem Bauch, das Gesicht nach unten, das Hemd blutdurchtränkt, neben ihm ein großes gezacktes Brotmesser mit blutiger Klinge.
Lara registrierte, dass das Haar an seinem Hinterkopf dünn wurde – ein völlig unwichtiges Detail –, dann schrie sie auf, und die Ereignisse überschlugen sich. Mark drehte sich mit einem fast zornigen Gesichtsausdruck zu ihr um, während Jo herbeigestürzt kam. Lara machte einen Schritt in das Badezimmer hinein, rutschte auf der Blutlache aus und fiel auf die Knie. Mark, der das Bad eher als Jo erreicht hatte, stolperte, taumelte, fing sich am Wannenrand ab und fluchte. Jos Gesicht schwebte wie ein bleicher Halbmond über ihnen, die Augen fragend aufgerissen, der Mund ein großes dunkles Loch. Erst als Mark sie unsanft
beiseitedrängte, konnte Lara ihre Starrheit abschütteln. Doch sie hatte keine Zeit nachzudenken, weil Mark ihnen unentwegt Anweisungen erteilte: Sie sollten den Notarzt rufen, sie sollten seine Tasche herbeibringen, sie sollten in den
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