Sensenmann
plötzlich umbringen wollen? Ich werde da absolut nicht schlau draus.«
»Das mit der Vergewaltigung stammt ja auch von Maria Sandmann. Und wer kann das beweisen?«
»Da hast du auch wieder recht.« Jo stieß mehrmals mit der Fußspitze gegen einen hochstehenden Teppichrand. »Man muss abwarten, was dieser Frank Schweizer zu der Situation sagt. Aber bis man ihn befragen kann, wird es wohl noch ein wenig dauern, schätze ich.« Er ging zwei Schritte zurück und schaute in die Küche, wo Mark gerade dabei war, sich von seinem Gesprächspartner zu verabschieden.
In dem wuchtigen Garderobenschrank aus der Gründerzeit, der im hinteren Bereich des Flures stand, raschelte es kurz, aber das hörten weder Lara noch Jo, weil sie im gleichen Augenblick in die Küche zurückkehrten.
Mark saß am Tisch und stützte seinen Kopf mit beiden Händen.
Zwischen den Ellenbogen lag ein vollgekritzeltes Blatt. Er sah aus, als habe ihn der Blitz getroffen.
Lara setzte sich und versuchte zu erkennen, was auf Marks Zettel stand, konnte aber seine Schrift nicht entziffern. »Es wird jemand von der Polizei hier vorbeikommen. Ich habe mit Kriminalobermeister Schädlich telefoniert.«
»Das ist gut.« Mark sprach verlangsamt, als bremsten seine Überlegungen die Zunge. »Ist ihr Rucksack noch hier?«
»Wenn ich mich recht entsinne, hängt er an der Flurgarderobe. Soll ich ihn holen?« Jo drehte sich um, ging hinaus und kam gleich darauf mit dem Tornister wieder.
»Schau mal, ob ein kleines Notizbuch drin ist.« Mark, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte, beobachtete, wie Jo in dem Rucksack kramte und schließlich das gesuchte Buch zutage förderte. Er nahm es entgegen, schlug es auf, blätterte, nickte mehrmals und klappte es dann wieder zu. Lara hatte das Ganze schweigend verfolgt. Sie verstand nicht recht, was Mark wollte, aber ihr Puls raste.
»Setz dich bitte auch, Jo. Ich habe euch einiges zu erzählen.« Erst als der seinen Stuhl zurechtgerückt hatte und Mark erwartungsvoll ansah, fuhr er fort. »Das war ein Kollege und Freund, Thorwald Friedensreich. Ich hatte ihn im Fall Maria Sandmann um Rat gebeten und ihm meine Aufzeichnungen gefaxt. Ich war gar nicht davon ausgegangen, dass er so schnell zurückruft …« Mark schien noch immer verblüfft. »Aber das, was er herausgefunden hat, ist bizarr. Kein Wunder, dass …« Eine erneute Pause. »Je länger ich jedoch darüber nachdenke, desto glaubhafter finde ich seine Theorie … Ich fange lieber von vorn an, sonst versteht ihr nur Bahnhof.« Mark erhob sich, ging zum Kühlschrank, holte den Saftkarton wieder heraus und goss sich ein Glas ein. Jetzt hatte er doch einen trockenen Hals bekommen. Er nahm einen langen Zug, dann atmete er tief aus und setzte fort. »Maria Sandmann war als Kind in einem Heim. Und zwar über Jahre
hinweg. Wie lange genau, wissen wir noch nicht. Als sie dorthin kam, war sie noch sehr klein. Ohne Details zu kennen, ist es trotzdem sicher, dass dort ungeheuerliche Dinge geschehen sein müssen. Das war zumindest mir und zu Teilen auch Lara bereits bekannt.« Er sah seine Freundin an, und sie nickte zur Bestätigung.
»Gestern kam meine Patientin dann mit diesem ominösen Brief zu mir, der von einem Matthias an seine Schwester Mandy geschrieben worden war. Obwohl Maria Sandmann sich weigerte, einen Bezug zwischen sich und dieser Mandy herzustellen, war mir relativ schnell klar, dass es eine solche Verbindung geben musste. Ich bin nach den Erkenntnissen der Therapiegespräche und der Hypnose davon ausgegangen, dass Maria Sandmann tatsächlich diese Mandy ist, sich jedoch nicht mehr daran erinnern kann, da sie bei der Trennung von ihrem Bruder vermutlich nicht älter als drei Jahre alt war. Ich habe vermutet, dass man ihr damals einen neuen Vornamen gegeben hat, und dachte, dass ihr Bewusstsein dies alles verdrängt hätte, sich ihr Unterbewusstsein aber noch erinnern könnte.«
»Klingt logisch.« Jo malte mit dem Zeigefinger Kringel auf der Tischplatte.
»Das dachte ich auch. Bis zu Thorwalds Anruf.«
»Dein Kollege sieht das wohl anders?«
»Das könnte man so sagen. Ich muss dazu ein bisschen ausholen.« Mark machte eine Pause und zog seinen Zettel mit den Notizen heran. »Bitte denkt daran, dass ich hier meine Schweigepflicht verletze, aber ihr seid eh schon viel zu sehr involviert. Trotzdem bitte ich euch darum, für euch zu behalten, was ich jetzt erzähle. Sagt Bescheid, wenn es zu viele Fachbegriffe werden.« Erst als beide nickten, fuhr
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