Sensenmann
Bewegungslosigkeit, maskenhafte Gesichtsstarre, Stummheit und fehlende Reaktion auf Außenreize gekennzeichnet ist. Die Ursache ist fast immer eine heftige emotionale Erschütterung, hervorgerufen durch extreme Ereignisse. Der Patient ist dann gewissermaßen ›starr vor Schreck‹. Frau Sandmann kann zwar alles hören und sehen, was um sie herum geschieht, reagiert jedoch nicht darauf. Das allerdings könnte auch eine Chance sein, sie zurückzuholen. Ihr Unterbewusstsein nimmt wahr, was ich ihr sage. Ich werde dann gleich wieder zu ihr gehen und mit ihr sprechen. Vielleicht dringe ich durch.«
»Was hat denn dazu geführt, dass sie plötzlich in diesen Zustand verfallen ist? Es kann doch nicht nur deswegen sein, weil ich versucht habe, sie zu küssen?«
»Mit Sicherheit nicht. Zuerst hat sie sich doch gewehrt, wie Sie mir vorhin erzählt haben?«
»Ja, sie hat mich aufs Übelste beschimpft, dann ist sie aufgesprungen und ins Badezimmer gerannt.«
»Wissen Sie, was sie da drin gemacht hat?«
»Ich glaube, zuerst wollte Mia duschen. Jedenfalls habe ich, nachdem sie aufgehört hatte herumzuschreien, das Wasser rauschen hören. Nach ungefähr zehn Minuten war plötzlich Ruhe. Warten Sie!« Frank Schweizer war aufgestanden, ging hinaus und kam gleich darauf mit einem Rucksack wieder zurück. »Den hatte sie mit im Bad.«
»Würden Sie bitte einmal schauen, was darin ist?«
»Moment.« Frank Schweizer zog die Schnüre am oberen Ende auf und spähte in den Beutel, bevor er seine Rechte darin versenkte. Es raschelte. Dann kam die Hand mit einem Bündel Briefe wieder zum Vorschein. Die Kuverts waren nicht beschriftet. Jemand hatte eines von ihnen aufgerissen.
Er betrachtete die Umschläge und legte sie dann auf den Tisch, um den Rucksack weiter zu durchsuchen.
»Halt! Das ist es!« Mark streckte den Arm aus und nahm den geöffneten Brief, während Frank Schweizer innehielt. Er zog die gefalteten Seiten hervor, glättete sie und legte sie dann auf den Küchentisch. Gemeinsam lasen sie die ersten Zeilen.
Samstag, der 18. 07.
Liebe Mandy,
nur wenige Tage sind vergangen, seit ich den ersten Brief an Dich geschrieben habe, und heute sitze ich schon wieder an meinem Schreibtisch, um Dir von spannenden Neuigkeiten zu berichten – das geht ziemlich schnell, nicht?
Mark blätterte schnell bis zum Ende, betrachtete den Absender und schob den Brief beiseite. Den Rest konnte er später analysieren. Das, was er gesehen hatte, reichte. Mandys Bruder Matthias hatte weitere Briefe verfasst und Maria Sandmann zukommen lassen. Einen davon musste sie in Frank Schweizers Badezimmer geöffnet haben, und der Inhalt hatte dann den Stupor hervorgerufen.
»Ich verstehe das nicht.« Frank Schweizer starrte noch immer auf die erste Seite, einen verdutzten Ausdruck im Gesicht.
»Aber ich weiß jetzt, was passiert ist.« Mark hub zu einer Erklärung an, wurde aber unterbrochen.
»Was machen Sie da?« Maria Sandmann stand in der Tür, die karierte Decke fest um sich gewickelt, und hielt sich mit der anderen Hand am Rahmen fest. Ihre Augen waren groß und rund, der Blick huschte von einem zum anderen. Sie sah aus wie ein verängstigtes Kind.
»Frau Sandmann?« Mark versuchte, ihren unsteten Blick festzuhalten. »Setzen Sie sich doch zu uns.«
Maria Sandmann schwankte leicht, und Frank Schweizer machte Anstalten, aufzuspringen und ihr beizustehen, aber Mark bedeutete ihm, sitzen zu bleiben. Zögernd kam die Frau näher und nahm den am weitesten von den beiden Männern entfernten Stuhl. Als ihr Blick auf die Briefe fiel, zuckte sie zusammen, sagte aber nichts.
»Wie fühlen Sie sich?« Mark sprach betont langsam. Sie war von selbst wieder aus ihrem Stupor erwacht, ein Zeichen, dass ihr Unterbewusstsein stärker war, als er geglaubt hatte. Das hieß auch, sie wollte sich den Erkenntnissen stellen, aber er musste trotzdem sehr vorsichtig herangehen, um sie nicht wieder zu Tode zu erschrecken.
»Es geht so.« Sie kratzte die ganze Zeit heftig den linken Unterarm, anscheinend, ohne es zu bemerken.
»Haben Sie diese Briefe mitgebracht?« Er zeigte auf die Kuverts. Maria Sandmann nickte und zog dann den Kopf zwischen die Schultern, als fürchte sie Schläge.
»Und Sie haben einen davon geöffnet?«
»Zuerst« – sie leckte sich über die Lippen und sprach dann weiter –, »zuerst habe ich mich nicht getraut.«
»Aber dann waren Sie doch mutig.« Wieder nickte sie und betrachtete dabei ihren linken Arm. Die Haut zeigte
Weitere Kostenlose Bücher