Sensenmann
rote und weiße Striemen. Hautfetzen hatten sich durch das exzessive Kratzen abgelöst.
»Haben Sie alles gelesen?«
»J… ja.«
»Was denken Sie darüber?«
»Mir hat das nicht gefallen, was da steht. Dieser Matthias …, der den Brief geschrieben hat …, das ist ein schlimmer Mann.«
»Wenn der Inhalt stimmt. Vielleicht hat er sich das Ganze auch nur ausgedacht.« Mark wusste, dass zumindest ein Teil dessen wahr sein musste, denn in dem ersten Brief, den Maria Sandmann gestern mit in seiner Praxis gehabt hatte, war von einem
Mann die Rede gewesen, der jetzt tatsächlich tot war. Aber das musste die Patientin jetzt noch nicht wissen. »Sie sind jedenfalls sehr tapfer.«
»Finden Sie?«
»Ganz sicher. Ich bin davon überzeugt, dass Sie den Inhalt dieser beiden Briefe richtig verstanden haben, oder?« Mark riskierte einen kurzen Blick zu Frank Schweizer, der das Ganze mit offenem Mund verfolgte. Er wollte nicht, dass sich der Mann in das, was jetzt kam, einmischte.
»Ich … glaube schon.« Jetzt klang sie wie ein kleines Mädchen, das sich in der Dunkelheit fürchtet. Mark überlegte noch einen Moment lang. Das, was er jetzt vorhatte, barg ein großes Risiko, dessen war er sich bewusst, aber es konnte auch eine heilsame Wirkung haben.
»Sie – haben – die – Briefe – verstanden.« Er machte eine kleine Pause und setzte hinzu: »Nicht wahr, Mandy?«
46
» Maria Sandmann ist diese Mandy?« Lara schüttelte den Kopf.
»Du sagst es.« Mark tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. »Ich habe das schon relativ zeitig vermutet. Schon als ich dieses Fragment des ersten Briefes in der Hand hielt und ihre Vorgeschichte hörte, habe ich mir so etwas gedacht.«
»Hast du die anderen Briefe auch gelesen?« Jo betrachtete betrübt seinen Teller. Über Marks Bericht hatte er die Pizza völlig vergessen, und jetzt war sie kalt.
»Noch nicht. Ich musste mich erst einmal um meine Patientin kümmern, versteht ihr? Das hat auch später noch Zeit. Heute Abend können wir eh nichts mehr unternehmen.«
»Hast du sie dabei?« Laras Augen funkelten im Kerzenlicht.
»Ja, aber«, er hob abwehrend die Hand, »das bedeutet nicht , dass ihr sie lesen dürft. Einerseits unterliegt das Ganze noch immer der ärztlichen Schweigepflicht, andererseits habe ich keine Erlaubnis von Frau Sandmann, auch die anderen Briefe zu öffnen. Der, den wir in Frank Schweizers Wohnung überflogen haben, war schließlich schon geöffnet. Es reicht außerdem, dass Lara herausgefunden hat, wer meine Patientin ist. Das müsst ihr strikt für euch behalten. Es kann mich meine Approbation kosten.«
Jo und Lara nickten gleichzeitig. Lara sprach zuerst. »Und glaubst du, diese Briefe sind tatsächlich von Maria Sandmanns Bruder?«
»Möglich ist es. Warum sonst sollte jemand ihr diese Nachrichten schicken? Dazu kommt ja noch, dass die Kuverts außen nicht beschriftet und doch in ihrem Briefkasten waren. Der Absender muss sie selbst eingeworfen haben. Er kannte also seine Adressatin ganz genau.«
»Das bedeutet doch aber, dieser Bruder wohnt in der Nähe, oder?«
»Könnte sein. Könnte aber auch sein, dass er eigens dazu hierhergefahren ist. Das kann man nur mutmaßen.« Mark nahm die Speisekarte und schlug sie auf. »Ich nehme noch einen Nachtisch. Ihr auch?«
»Nur einen doppelten Espresso.« In Laras Kopf wirbelten die Ereignisse der letzten Stunden herum. »Aber wieso weiß sie dann nichts von einem Bruder?«
»Das kann mehrere Ursachen haben. Vielleicht war sie noch zu klein, als sie getrennt wurden. Sie kann es aber auch einfach verdrängt haben.«
»Wo ist sie denn jetzt?«
»Bei diesem Frank Schweizer. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, und sie schläft. Er passt auf sie auf. Sollte sich ihr Zustand verschlechtern, ruft er mich an. Morgen sehen wir weiter.
Ich übernachte im Hotel und werde Frau Sandmann dann morgen früh an einen Kollegen hier vor Ort überweisen. Zwar ist sie derzeit stabil, aber das kann auch schnell wieder kippen. Meine Sprechstunde beginnt morgen erst um zehn Uhr, sodass ich es gut schaffen müsste, danach wieder zurückzufahren.« Von Annas Zorn erzählte Mark Jo und Lara nichts. Seine Frau war so wütend gewesen, dass sie aufgelegt hatte, ohne ihn zu Ende anzuhören. Es würde Tage dauern, das wieder auszubügeln.
»Frank Schweizer ist tatsächlich ihr fester Freund? Ich hatte eher den Eindruck, das war eine rein« – Lara hielt kurz inne und überlegte, wie sie sich ausdrücken
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