Sensenmann
einer Cordhose direkt vor ihrer Nase. Eine schwielige Hand schnappte nach ihrem Oberarm und schloss sich wie eine eiserne Zange darum. »Komm schon! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!« Er zerrte sie aus dem Bett. Im Bett über ihr hatte Karli den Kopf unter ihrem Kissen verborgen. Schnell schaute Mia wieder
auf den Boden. Niemand hier würde ihr helfen. Die Mädchen waren froh, dass sie selbst verschont geblieben waren.
»Heul nicht! Dazu hast du später noch genug Zeit!« Ein massiges Lachen brach sich aus dem Brustkorb des Mannes Bahn. Mit Mias Arm im Schraubstock seiner großen Pranke, zog er sie hinter sich hinaus. Sie hatte nicht einmal Zeit gehabt, in ihre Pantoffeln zu schlüpfen.
»Und nun das Wetter.« Die Deutschlandkarte erschien. Mit halboffenem Mund starrte Mia auf den Fernseher. Reiß dich zusammen, Mädchen! Das geht so nicht weiter! Sie stand direkt vor dem Bildschirm. Das schnurlose Telefon lag neben ihr auf dem Teppich. Es musste ihr aus der Hand gerutscht sein. Wen hatte sie anrufen wollen? Vorsichtig beugte sie sich nach vorn, hob das schwarze Plastikgerät auf und legte es im Hinausgehen achtlos auf den Esstisch. Sie marschierte geradewegs in ihre Küche. Mia brauchte jetzt ein Glas Wein. Sonst trank sie wenig Alkohol, weil er sie durcheinanderbrachte, aber dies war eine Ausnahmesituation.
Und dann würde sie sich vor den Fernseher setzen und Boulevardmagazine anschauen. Nichts eignete sich besser, um abzuschalten, als Boulevardmagazine.
19
Die ersten beiden Adressen führten ihn nach Zwickau. Die Stadt hatte sich verändert. Matthias Hase betrachtete im Vorbeifahren die renovierten Häuserfassaden. Er war damals nicht oft hier gewesen. Und doch hatte sich ihm manches Detail aus dem Stadtbild eingeprägt. Einige Male hatten die Heimkinder eines der Kinos hier besucht. Es musste in den großen Ferien gewesen
sein, denn während der Schulzeit gab es keine Ausflüge. Sie waren dann alle zusammen mit dem Bus in die Stadt gefahren und anschließend mit der ganzen Gruppe durch die Innenstadt gelaufen. Matthias spürte förmlich noch die Hitze der Sommernachmittage und die drückende Luft in dem stickigen Kinosaal. War die Sagorski dabei gewesen? Er konnte sich nicht entsinnen, aber das musste nichts heißen. Wahrscheinlich war, dass die Heimleiterin nicht mitgefahren war. Die Beaufsichtigung bei Ausflügen oblag den Erziehern der Tagesschicht.
Schloss Osterstein, das damals eine Ruine gewesen war, erstrahlte inzwischen in neuem Glanz. Den hell erleuchteten Tunnel, durch den er jetzt fuhr, gab es mit Sicherheit auch noch nicht lange. Matthias betrachtete das Display des Navigationssystems. Sein erster Haltepunkt rückte näher. Zweimal rechts abbiegen.
Noch einmal durchdachte er seine Strategie. Wenn die ehemalige Heimleiterin selbst ihm die Tür öffnete, würde er sie erkennen, dessen war er sich sicher. Sollte er einem anderen Familienmitglied gegenüberstehen, musste er herausfinden, ob dies überhaupt die richtige Adresse war, ohne zu viel von sich preiszugeben. Wenn er nun auf die richtige Sagorski treffen und diese danach plötzlich verschwinden sollte, würde man sich gewiss an den Unbekannten erinnern, der Fragen gestellt hatte. Und an einigen Fragen kam er nicht vorbei. Was jedoch brachte jemanden dazu, einem Fremden Auskunft zu erteilen? Eine Erbschaft von einem ehemaligen Zögling? Die Suche nach einem verlorenen Geschwisterkind? Was würde die Heimleiterin ihm eher abnehmen?
Er hatte lange nach einem passenden Gesprächsanfang gesucht. Damit ihn niemand so schnell wiedererkannte, auch die Sagorski nicht, hatte er sich mit Sonnenbrille und Baseballcap ausstaffiert und ein Sofakissen am Bauch festgeklebt. So wirkte er dicker. Es war nicht ohne Risiko, aber er musste es versuchen.
Matthias bremste und hielt vor dem Mehrfamilienhaus. Sein Herz raste. Mit einem Papiertaschentuch tupfte er sich die Schweißperlen von der Stirn und stieg dann aus. Am Klingelbrett standen acht Namen. Ganz langsam senkte sich der Zeigefinger auf das runde Knöpfchen bei »Sagorski«.
Der Türsummer ertönte. Niemand fragte nach, wer da Einlass begehrte. Das war schon mal leichter als gedacht. Langsam stieg Matthias in der dämmrigen Kühle nach oben und scannte dabei die Schilder an den massiven Holztüren. Im zweiten Stock fand er den gesuchten Namen. Die Wohnungstür war angelehnt. Er hatte gerade den rechten Arm ausgestreckt, um zu klopfen, als die Tür aufschwang. Ein kleiner buckliger Mann
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