Sensenmann
hatte seit der Trennung nichts mehr von ihm gehört. War er noch in der Stadt? Im Gegensatz zu ihr war er fast hyperaktiv gewesen. Die Unternehmungen mit ihm – Ausstellungsbesuche, Wanderungen, Konzerte, Lesungen, sogar die regelmäßigen Kinobesuche – fehlten ihr. Allein konnte sie sich nie dazu aufraffen, blieb lieber zu Hause und las ein Buch.
Lara wechselte die Straßenseite, um im Schatten gehen zu können. Die Sonne hatte ihre schwarze Bluse an Schultern und Rücken aufgeheizt. Der Eisverkäufer in dem mobilen Wagen neben dem Springbrunnen grinste. Lara lächelte zurück und ging vorbei. Heute nicht, mein Freund. Sie konnte es sich nicht erlauben, jeden Tag ein Eis zu essen.
Ihre Freundin Doreen hatte sie auch schon ewig nicht mehr gesehen. Doreen hatte sich wieder mit ihrem Ex eingelassen, und nun fehlte ihr die Zeit, sich ab und zu auf ein Schwätzchen mit Lara zu treffen. Sie riefen sich zwar mindestens einmal die Woche
an, aber es blieb immer nur bei Beteuerungen, sich wieder einmal zu treffen.
Gestern Abend hatte sie über eine Stunde mit Mark telefoniert. Er hatte ihr nach dem Gespräch vergangenen Dienstag versprochen, sich mit seinen Fachkollegen in Bezug auf Vorahnungen und Gesichte zu besprechen und deren Hypothesen und Behandlungsmöglichkeiten zu vergleichen. Als Ergebnis war herausgekommen, dass es doppelt so viele Meinungen wie Fachleute gab. Für die einen war es schlicht Humbug, für andere existierte so etwas wie Telepathie tatsächlich. Zwischen beiden Extremen gab es zahlreiche Zwischenmeinungen. Mark selbst tendierte dazu, an solche Phänomene zu glauben, da er diese schon öfter bei seinen Patienten beobachtet hatte. Es gab auch Erklärungen für solche Erscheinungen, die allerdings den Erkenntnissen der Schulmediziner widersprachen.
Lara betrat die Stufen zum Eingang des Landgerichtes. Die mächtige zweiflügelige Tür war dreimal so hoch wie sie selbst, und auch die Klinke befand sich in ungewöhnlicher Höhe. Öffentliche Gebäude früherer Zeiten hatten die Aufgabe, allein durch ihre immense Größe das Volk schon im Vorfeld einzuschüchtern. Die Übertreibung hatte aber auch etwas für sich. Im Landgericht war die Luft kühl und frisch. Lara hielt ihren Presseausweis so, dass der Beamte am Eingang hinter der Glasscheibe ihn sehen konnte, wartete sein Nicken ab und stieg die Haupttreppe hinauf.
Marks Zuspruch hatte sie irgendwie beruhigt und ihr die Angst, verrückt zu werden, genommen. Was ihre Gesichte allerdings mit gerade stattfindenden Straftaten zu tun hatten, konnte auch Mark Grünthal nicht sagen. Bei dem Fall des Serienmörders Martin Mühlmann im vergangenen Jahr hatten sie im Nachhinein feststellen müssen, dass Lara tatsächlich Details seiner Untaten »gesehen« hatte. Von Zeit zu Zeit schien es eine unerklärbare Verbindung zwischen ihrem Unterbewusstsein und in der Nähe stattfindenden Verbrechen zu geben.
Da die gegenwärtigen Visionen aber auch jetzt wieder unscharf waren und keine Einzelheiten über Ort und Zeit erkennen ließen, konnten weder Mark noch Lara sagen, was das erneute Auftauchen ihrer »Gabe« dieses Mal bedeutete. Sie hoffte jedoch gegen ihre Überzeugung, dass es einfach ein Zeitvertreib ihrer überbordenden Fantasie war.
»Hallo, Lara! Auch schon da?« Frank Schweizer kam aus dem Seitengang, in dem sich die Toiletten befanden, und ließ sich neben ihr auf die Holzbank plumpsen. »Es geht erst in anderthalb Stunden los.« Er flüsterte unwillkürlich, obwohl die anderen Besucher weitab standen.
»Die ersten Gaffer haben sich aber schon eingefunden.« Lara deutete auf die Menschentraube vor dem Gerichtssaal. »Das Interesse an dem Fall ist groß.«
»Das, was dieser pädophile Arzt unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Untersuchungen angestellt hat, passiert ja zum Glück auch nicht alle Tage. Wann erscheint dein Artikel?«
»Wenn alles nach Plan verläuft und sie hier rechtzeitig fertig werden, morgen. Ich habe schon damit angefangen.«
»Das schaffst du. Es dauert heute sicher nicht ewig. Im Prinzip ist doch alles gesagt. Was, glaubst du, wird er kriegen?« Frank begann, in seiner Tasche zu kramen.
»Das ist schwer zu sagen. Für solche schweren Missbrauchsfälle sieht das Gesetz Gefängnisstrafen von zwei bis fünfzehn Jahren vor. Ich hoffe, er bekommt die Höchststrafe.« Lara zückte ihr Diktiergerät und stand auf. »Ich gehe ein paar Zuhörer befragen. Brauche noch ein bisschen O-Ton. Soll ich dir einen Platz
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