Sensenmann
Gesicht.
»Halt dein Schandmaul!« Karla warf die Bettwäsche auf den Fußboden.
Susi hüpfte hinaus. Ihr triumphierendes Geschrei wurde leiser und verklang. Mia konnte die Tränen jetzt nicht mehr zurückhalten. Sie wusste, was geschah, wenn eins von den Kindern ins Bett machte. Sie hatte es bereits am eigenen Leib erfahren.
»Jetzt bist du fällig, Pissnelke.« Susi rannte vorneweg, auf das große schmiedeeiserne Tor zu und stieß es auf. Sie warf keinen Blick zurück. Zwei Mädchen und drei Jungen folgten ihr. Die Jüngeren hatten heute schon nach der fünften Stunde Unterrichtsschluss gehabt.
Mias Schritte wurden immer langsamer. Sie durchquerte das Tor als Letzte und stolperte mehr über den Kiesweg, als dass sie ging. Vor ihr schwang die schwere Haustür ins Schloss. Alle anderen Kinder waren schon hineingegangen. Mia schniefte und suchte dann in ihrem Ranzen nach einem Taschentuch. Miss Piggy mochte es nicht, wenn Kinder die Nase hochzogen. Miss
Piggy hieß in Wirklichkeit Frau Gurich. Mia hatte keine Ahnung, was »Miss Piggy« bedeutete, aber alle Kinder nannten die Erzieherin hinter ihrem Rücken so.
Frau Gurich machte immer die Tagesschicht. Sie kam morgens halb sechs und ging, wenn die Hausaufgabenstunde begann. Langsam tastete Mia sich die geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock. Nach der Rückkehr aus der Schule mussten die Kinder sich umziehen. Beim sogenannten »Kleiderwechsel« wurden die »guten« Schulsachen gegen »Freizeitkleidung« getauscht. Frau Gurich war für alles verantwortlich, was mit Kleidung zu tun hatte. Für die Bettwäsche war sie auch verantwortlich.
Mia schnaubte sich noch einmal aus und überlegte, ob sie zuerst die Sachen wechseln und dann neue Bettwäsche holen sollte oder umgedreht. Sie entschied sich fürs Umziehen. Das verschaffte ihr noch eine Gnadenfrist. Dachte sie.
Vor der hohen Flügeltür im zweiten Stock blieb sie erneut stehen. Obwohl Mia die Treppen eher hinaufgeschlichen denn gerannt war, rang sie nach Luft. Ihre Arme hingen kraftlos nach unten. Dann sprang die Tür ihres Gemeinschaftszimmers auf und Susi kam herausgerannt. »Pissnelke!«, flüsterte sie im Vorbeihuschen, gerade so laut, dass niemand anderer es hören konnte.
Im Schlafsaal wartete Frau Gurich bereits auf Mia. Wie ein fleischiger Racheengel stand sie in der Mitte des großen Raumes, die Hände in die Seiten gestemmt, und sah ihr entgegen, ein feistes Grinsen im Schweinchengesicht.
Die beiden Mädchen, die mit Mia und Susi aus der Schule gekommen waren – Sandra und Kerstin hießen sie –, hängten hastig ihre Schulkleidung in den Schrank und beeilten sich, ihre Schürzen über dem Arm, aus dem Schlafsaal zu verschwinden, um nicht auch noch in den Fokus der Gurich zu geraten. Die Tür fiel hinter ihnen zu. Mia war allein.
Miss Piggys Mundwinkel wölbten sich noch ein bisschen weiter
nach oben. Das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Mia begann zu zittern. Dann veränderte sich das schwabbelige Gesicht der Erzieherin, das breite Grienen verschwand, die kleinen Augen funkelten heimtückisch.
»Ich habe gehört, du hast heute Nacht mal wieder dein Bett beschmutzt?«
Mia bemühte sich, das Zittern zu unterdrücken, aber es wurde stärker. Sie biss die Zähne aufeinander, bis die kleinen Muskeln an ihren Schläfen schmerzten.
»Antworte mir! Hast du eingenässt?«
Ein »Ja« wollte nicht herauskommen, und so nickte Mia nur.
»So ein Schwein!« Die Gurich machte zwei Schritte auf Mia zu. »Du weißt, was das bedeutet, Mädchen?« Mia schüttelte zaghaft den Kopf. Miss Piggy nannte alle Kleinen »Mädchen« oder »Junge«, so, als wollte sie sich die Namen der Kinder nicht merken, als seien sie alle nur anonyme Schachfiguren.
»Bettnässer werden bei uns bestraft. Aber das weißt du ja schon. Und trotzdem hast du wieder in dein Bett gemacht. Du ignorierst unsere Erziehungsmaßnahmen, Mädchen.« Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie es selbst nicht glauben, wie jemand so renitent sein konnte. »Machst du das, um uns zu ärgern? Ich hoffe jedenfalls für dich, dass das nicht so weitergeht, denn beim nächsten Mal werden wir ernsthafte Maßnahmen ergreifen müssen.«
Mia schaffte es nicht mehr, die Zähne zusammenzubeißen. Sie begannen in dem Augenblick zu klappern, in dem sie die verkrampften Muskeln löste.
»Führ dich nicht so auf!« Die Gurich hatte ihre Stimme jetzt wieder erhoben. »Du tust ja gerade, als wollte ich dich züchtigen! Dabei werde ich dir kein
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