Sensenmann
stand im dämmrigen Flur. »Wollen Sie zu mir?« Der Alte trat einen Schritt nach vorn und musterte den Besucher mit zusammengekniffenen Augen.
Matthias spulte sein vorbereitetes Programm ab. Am Gesichtsausdruck des Mannes konnte er ablesen, dass dieser keine Ahnung hatte, wovon er sprach.
»Da sind Sie wohl falsch. Ich wohne allein hier. Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Die Kinder und Enkel haben nie Zeit.« Der Alte zog die Nase hoch und schüttelte den Kopf. »Wollen Sie reinkommen?«
»Nein danke.« Matthias strahlte sein nettes Lächeln. »War Ihre Frau zu DDR-Zeiten in einem Kinderheim beschäftigt?«
»Nein. Ilse hat im Gardinenwerk gearbeitet. Ihr ganzes Leben lang.«
»Aha. Na, dann habe ich mich wohl geirrt. Nichts für ungut. Wiedersehen.« Jetzt ergriff Matthias die Hand des alten Mannes. Sie fühlte sich wie trockenes Pergamentpapier an. Der Alte blickte ihm nach. Es fühlte sich in Matthias’ Rücken an, als bedaure Herr Sagorski, dass der Gast nicht doch Zeit für ein Schwätzchen gehabt hatte.
Auf der Straße blinzelte er und rückte die Sonnenbrille zurecht.
Erster Versuch fehlgeschlagen. Im Auto summte eine Wespe. Er ließ die Scheibe herunter und wartete, bis das Insekt den Weg hinaus gefunden hatte. Dann programmierte er das nächste Ziel in sein Navigationssystem ein.
Die Ampel schaltete auf Gelb, und Matthias bremste. Es war schon weit nach Mittag, und er hatte nichts erreicht. Bei der zweiten Adresse hatte niemand geöffnet. Seine Unterlippe schob sich noch ein bisschen weiter nach vorn.
Jetzt musste er noch ins Vogtland. »Aller guten Dinge sind drei.« Matthias gab Gas. Fand er die Sagorski heute nicht, blieb ihm immer noch die Möglichkeit, die Umkreissuche im Internet auszudehnen oder darauf zu hoffen, dass ihm doch noch weitere Namen aus der Zeit im Heim einfielen. Vielleicht hatte sich auch sein neuer E-Mail-Freund inzwischen an weitere Einzelheiten erinnert.
Der Pfeil auf dem Display, der sein Auto symbolisierte, rückte schnell voran. Noch sieben Minuten bis zum Ziel, verkündete der Bildschirm. Er drückte ein bisschen aufs Gas und leckte sich über die trockenen Lippen.
»Guten Tag. Mein Name ist Wallau.« Die dicke ältere Frau in der halbgeöffneten Tür nickte abschätzig, ohne etwas zu sagen. Matthias versenkte seine Hände in den Hosentaschen, um ihr Zittern zu verstecken, ehe er weiterredete. »Ich suche eine Frau Sagorski.«
»Was wollen Sie denn von ihr?«
Erneut begann er mit seiner Geschichte von der verloren gegangenen Schwester. Im Gesicht der Dicken regte sich kein Muskel. Ihre kleinen Augen verschwanden fast zwischen den Hautfalten. Das Mopsgesicht hatte sich im Lauf der Jahre noch stärker ausgeprägt. Matthias hatte sie sofort erkannt. Sie jedoch schien sich nicht an ihn zu erinnern. Dabei war Sebastian Wallaus Aufenthalt
im Kinderheim noch nicht so lange her wie sein eigener. Matthias hatte den Nachnamen seines neuen Freundes benutzt, weil er seinen eigenen nicht verwenden wollte, jemand namens Wallau jedoch tatsächlich dort gewesen war. Immer so nah wie möglich bei der Wahrheit bleiben. Es konnte auch sein, die Sagorski tat nur so, als habe sie alles vergessen. Das konnte er nicht einschätzen. Weit kam er jedenfalls nicht.
»Und da klingeln Sie bei mir?«
»Haben Sie denn nicht zu DDR-Zeiten ein Kinderheim geleitet?« Die Frau wusste genau, warum er bei ihr geklingelt hatte – er konnte es am lauernden Blick der Schweinsäuglein erkennen.
»Sie sind falsch hier. Wiedersehen!« Die Tür schloss sich mit einem Krachen. Matthias schaute sich um. Er betrachtete die exakt geschnittene Hecke vor dem Einfamilienhaus. Der Rasen war auf fünf Millimeter getrimmt. Nicht ein Gänseblümchen traute sich zwischen den Grashalmen hervor. Am Fenster neben der Eingangstür bewegte sich die Gardine. Er wandte den Blick nicht ab. Sollte sie ruhig sehen, dass er noch immer hier stand. Sie konnte ruhig wissen, dass er sie durchschaut hatte.
Frau Sagorski wollte nicht mit einem ehemaligen Heimbewohner reden. Das sprach dafür, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte. Und wer ein schlechtes Gewissen hatte, der hatte auch Dreck am Stecken. Ein Klischee zwar, aber diesmal stimmte es. Langsam drehte er sich um. Matthias Hase hatte erfahren, was er wissen wollte. Die Sagorski genoss ihr Rentendasein, nur hundertfünfzig Kilometer von ihm entfernt, und erfreute sich bester Gesundheit. Sie sah noch genauso aus wie damals. Wahrscheinlich bekamen Dicke
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