Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
Vom Netzwerk:
darauf wieder aufzureißen. Ihre Augen brannten. Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand feinkörnigen Sand auf die Hornhaut geblasen. Wieder gähnte sie. In den Nackenmuskeln ziepte es. Es kam ihr so vor, als habe sie die ganze Nacht kein Auge zugetan, dabei war sie heute Vormittag gegen neun aus einem traumlosen Schlaf erwacht und hatte auch nach längerem Nachdenken keine Erinnerungen an ein erneutes Schlafwandeln oder Albträume
gefunden. Das Ganze könnte auch ein allgemeiner Erschöpfungszustand sein, die Vorstufe eines Burn-out-Syndroms oder so. Sie arbeitete zu viel und gönnte sich nur wenig Erholung. Oder sie hatte, ohne davon zu wissen, im Schlaf Atemaussetzer. Schlafapnoe kam häufiger vor, als die Leute ahnten.
    Vielleicht bist du einfach nur ein Hypochonder, Mia Sandmann. Was für Krankheiten wünschst du dir denn noch alles?
    »Nicht schon wieder. Sei einfach still, und lass mich in Ruhe nachdenken, ja?«
    Wenn du meinst, dass dich das weiterbringt. Perlendes Gekicher klingelte durch Mias Kopf. Nachdenken, hihi! Du musst es ja wissen.
    Mia drehte das Radio auf volle Lautstärke. Knisternd und rauschend wurden Sportnachrichten verlesen. Draußen sauste die Stadt vorbei. Sie fuhr zu schnell, aber es war egal.
     
    »So, Frau Sandmann. Ich nehme zuerst Ihre Daten auf.« Die Sprechstundenhilfe schaute von ihrem Schreibtisch hoch und lächelte. Auf ihrem Namensschild stand »Schwester Annemarie«.
    »Haben Sie Ihre Chipkarte mit?« Mia nickte und reichte das Kärtchen über den Tresen.
    Das Wartezimmer war leer. Vielleicht gab es noch einen zweiten Eingang, damit sich die Patienten nicht über den Weg liefen. In der Luft lag ein kaum wahrnehmbarer Geruch nach Damaszenerrosen. An der hellgrünen Wand hingen Bilder mit Naturaufnahmen: schaumgekrönte Wellen, Alpengipfel im Licht der Abendsonne, ein Bauerngarten.
    »Nehmen Sie doch bitte noch einen Moment Platz. Der Doktor hat gleich Zeit für Sie.« Schwester Annemarie deutete auf die mit dunkelgrünem Stoff bezogenen Stühle. Grüne Stühle, grüne Tapete, grüne Übergardinen. Wahrscheinlich sollte das beruhigend wirken. Mia lächelte abwesend und setzte sich; den Rücken gerade, die Beine eng nebeneinander, die Finger im Schoß verschlungen.
Die Stimmen in ihrem Kopf schwiegen. Sie hatte das Gefühl, alles warte atemlos darauf, was weiter geschehen würde.
    »Frau Sandmann?« Eine doppelwandige Tür schwang auf, ein großer, schlanker Mann steckte seinen Kopf heraus und lächelte aufmunternd, bevor er einen Schritt ins Wartezimmer hinein machte und die Hand ausstreckte. »Grünthal. Kommen Sie herein.«
    Mia spürte ihr Herz schlagen. Es rappelte in der Brust herum, als wolle es sich aus einem zu engen Käfig befreien. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Hinter ihr glitt die Tür mit einem sachten Schnappen zu. Nichts war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Es gab nur einen mickrigen kleinen Schreibtisch, der an der rückwärtigen Wand stand und nicht aussah, als ob er in den Behandlungen viel zum Einsatz käme. Rechts von ihr befand sich eine gemütlich aussehende Sesselgruppe, die um einen runden Tisch herum gruppiert war. Außerdem hatte der Arzt keinen weißen Kittel an. Stattdessen trug Doktor Grünthal so etwas wie Freizeitkleidung: eine dunkle Hose und ein hellblaues Hemd, dazu schwarze Slipper. Keinen Schlips.
    Wenigstens die erwartete Couch war da. Mia sah sich darauf liegen, die Augen geschlossen, den Arzt an ihrem Kopfende Fragen murmelnd, und schüttelte heftig den Kopf. Kommt gar nicht infrage!
    Doktor Grünthal hatte inzwischen auf einem der bequem aussehenden Sessel Platz genommen und schlug die Beine übereinander, das einnehmende Lächeln noch immer im Gesicht. Mia suchte sich den Platz ihm gegenüber aus. Sie wusste, dass er die Handtasche auf ihrem Schoß, von beiden Händen fest umklammert, als Barriere deuten würde, und fühlte sich doch sicherer so.
    »Frau Birkenfeld hat mich empfohlen?« Der Arzt lächelte etwas breiter. Seine lange, kantige Nase, die wie ein spitzwinkliger Balkon aus dem hageren Gesicht hervortrat, erinnerte Mia an
den Vogel mit dem Brief aus dem Tryptichon »Die Versuchung des heiligen Antonius« von Hieronymus Bosch. Die Assoziation rief ein zaghaftes Lächeln hervor. Doktor Grünthal schien es seiner Präsenz zuzuschreiben und lehnte sich ein wenig zurück. Die Hände hatte er locker vor dem Bauch gefaltet.
    Wer analysiert hier wen? Sei still, stör mich jetzt nicht. Mia rief sich die Frage des

Weitere Kostenlose Bücher