Sensenmann
geworden. »Reden Sie nicht um den heißen Brei herum. Sie wissen doch genau, was mit den Kindern geschah, die sich nicht fügen konnten oder wollten!«
»Die Kinder mussten zusätzliche Arbeiten verrichten. Aufräumen, saubermachen, in der Kleiderstube helfen.«
»Das war alles?«
»Manchmal gab es auch Arrest.«
»Wo war dieser Arrest?«
»Im Keller.«
»Im Keller des Kinderheims?«
»Ja. Diese Strafe haben wir aber nur im Notfall angewendet.« Die Sagorski seufzte. Melodramatisch, wie es ihm vorkam.
»Im Notfall, aha.« In Matthias’ Kopf flammte das Wort »Katakomben« auf. Er notierte es sich im Geist. Anscheinend gab es verborgene Erinnerungen an das Eingesperrtsein im Keller in seinem Unterbewusstsein. Er würde sie später hervorholen.
»Ich fasse mal zusammen, Frau Sagorski: Aufräumen, saubermachen, in der Kleiderstube helfen. Dazu Arrest bei manchen Kindern. War das jetzt alles?« Die Frau schwieg, presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie nicht mehr zu sehen waren.
»Gut, dann stelle ich die Frage anders: Gab es auch körperliche Züchtigungen?«
»Davon ist mir nichts bekannt.«
»Du lügst!« Er schlug ihr direkt ins Gesicht. Sie zuckte zusammen. »Antworte gefälligst!«
»N … Nein.«
»Du weißt, was das bedeutet? Ich hasse Lügner.« Er beugte sich nach vorn, betrachtete das fette, widerwärtige Gesicht und kehrte zum höflichen »Sie« zurück, um seinem Zorn die Möglichkeit zur Beruhigung zu geben. »Ich gebe Ihnen noch eine letzte Chance, die Wahrheit zu sagen. Nutzen Sie sie.«
»Ich … Es… Also gut. Ab und zu hat es wohl auch weitergehende Strafmaßnahmen gegeben …«
»Waren Sie auch an solchen Sanktionen beteiligt?«
Sie überlegte. Zu lange. Schon das verriet sie. Aber anscheinend glaubte sie noch immer, ihm etwas vorspielen zu können. Matthias trat einen halben Schritt nach vorn, sodass seine Fußspitzen das herausgeklappte Metallgestell der Karre berührten,
und krümmte Daumen und Zeigefinger dicht vor ihren Augen zu einer Zange. Sie holte tief Luft. Dann fuhr die geöffnete Zange links und rechts in ihre Nase und krallte sich in die Nasenscheidewand. Die Heimleiterin gab ein dumpfes Gurgeln von sich, das in ein langes »Aahh« mündete. Matthias ließ los und wischte seine Finger an der Cargohose ab. Das Blut hinterließ zwei Schmierer auf dem Baumwollstoff, die im Mondlicht schwärzlich aussahen.
»Was fällt Ihnen hierzu ein?«
»Das … Das habe ich ab und zu mit unartigen Kindern gemacht.« Aus den Nasenlöchern der Sagorski sickerte schwarzrote Flüssigkeit, rann zäh in Richtung Oberlippe und tröpfelte geräuschlos auf ihre Brust.
»Sehr gut! Endlich begreifen Sie, was ich von Ihnen möchte! Was haben Sie den Ihnen anvertrauten Kindern außerdem angetan?«
»An den Haaren gezogen. Hab sie geschubst und ab und zu ein paar Ohrfeigen verteilt. Sonst nichts.«
»Sonst nichts? Gar nicht so schlimm, hm? Eigentlich waren Sie ganz harmlos?« Matthias hörte seine Stimme im Wald nachhallen. Ganz harmlos … Ganz harmlos … Was das Schlimmste dabei war – der Kommentar stimmte. Von all den Peinigern war die Sagorski zweifellos die Harmloseste gewesen. »Waren das solche Ohrfeigen?« Er ließ seine Rechte spielerisch auf die aufgedunsene Wange klatschen. »Oder eher solche?« Jetzt schlug die Hand härter zu. Die Sagorski antwortete nicht. Ihre Augen schimmerten feucht. Nun hatte sie wirklich Angst. Matthias genoss es einen Augenblick lang, ehe er sich zur Räson rief. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich jetzt richtig Mühe gab mitzuarbeiten, und gestattete sich ein Lächeln.
»Es gab Schlimmere als mich.«
»Wie recht Sie haben.« Im gleichen Augenblick, in dem er ihr antwortete, sah Matthias das Begreifen in ihren Augen aufflackern,
weil ihr klar wurde, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Durch ihre Aussage hatte sie ihm verraten, dass sie die ganze Zeit von den Untaten ihrer Angestellten gewusst und nichts dagegen unternommen hatte. »Und wie armselig von Ihnen! Sie wussten die ganze Zeit, all die Jahre, was Ihre Untergebenen mit den Kindern anstellten, und haben es hingenommen. Die Quälereien, die Misshandlungen, die Folter. Haben Sie kein schlechtes Gewissen?«
»Doch. Es tut mir sehr leid!« Sie schluchzte die Worte heraus, und Matthias brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass die Frau log. Sie log, um sich reinzuwaschen. Und um der Vergeltung zu entgehen. Was sie dabei nicht bedachte, war, dass er sie nach all dem
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