Sensenmann
Arztes ins Gedächtnis zurück. »Ja. Ich habe Frau Birkenfeld bei einem Gerichtsprozess kennengelernt. Sie arbeitet für die Tagespresse. Ich war als Vertreterin des Jugendamtes dort.« Der Arzt nickte freundlich, und so fuhr sie fort: »Vorgestern sind wir nach der Urteilsverkündung noch einen Kaffee trinken gegangen, und Frau Birkenfeld hat Sie erwähnt.«
»Lara und ich kennen uns schon lange.« Doktor Grünthal erklärte nicht, woher, und fragte auch nicht, warum seine neue Patientin es so eilig gehabt hatte und zwei Tage nach einem, wie sie es schilderte, belanglosen Gespräch bereits einen Termin bei ihm vereinbart hatte. »Es ist nett, dass sie mich empfohlen hat.«
Mia versuchte, unauffällig das Zifferblatt ihrer Armbanduhr zu erkennen. Bis jetzt plauderten sie einfach so daher. Wann begann die Analyse?
Wovor hast du Angst? Dass er etwas Peinliches oder Unangenehmes über dein Innenleben herausfinden könnte? Du musst nichts sagen, wenn du nicht willst. Das weiß ich selbst. Mia sah kurz hoch, ehe sie den Blick wieder auf ihre Hände richtete, die den Griff der Handtasche zusammenpressten. Hatte sie laut gesprochen? Anscheinend nicht. Der Arzt machte noch immer sein »Ich-bin-ganz-Ohr«-Gesicht.
»Und nun sind Sie hier.« Er wartete. Schaute begütigend, als wolle er sagen: Reden Sie es sich von der Seele. Ich urteile nicht.
Mia räusperte sich. Atmete tief ein und wieder aus. Löste die Finger, einen nach dem anderen, stellte die Tasche neben dem Sessel auf den Boden und legte die Handflächen auf die Oberschenkel. Der Arzt wartete geduldig, als sei er solches Verhalten
gewöhnt. Anscheinend war sie nicht die einzige Patientin, der es schwerfiel, mit der Sprache herauszurücken.
»Ich habe Probleme.« Ganz toll, Mia! ›Probleme‹! Was für eine Plattitüde! Dass ich nicht lache.
»Können Sie das etwas näher erläutern?«
»Also, ich … ich schlafwandle anscheinend. Jedenfalls bin ich neulich nachts aufgewacht, stand auf meinem Balkon und habe den Mond angestarrt.«
Doktor Grünthal wippte sacht mit dem Kopf. »Schlafwandeln kommt häufiger vor, als man denkt, besonders bei Vollmond. Viele Menschen wissen nur morgens nichts mehr davon. Ist es in Ordnung, wenn ich mir ein paar Notizen mache?«
Mia nickte und beobachtete, wie er eine Karteikarte und einen Stift von dem Bord neben dem Tisch nahm. Der Arzt hatte lange, schlanke Finger mit breiten Fingernägeln. Er kritzelte etwas in einer unleserlichen Handschrift auf die Linien und blickte sie dann wieder aufmerksam an, schwieg, wartete. Sekunden verloren sich im Grün des Raumes. Es war sehr still. Keine störenden Geräusche.
»Kann so etwas gefährlich werden?«
»Das Schlafwandeln?«
»Ja.«
»Eher nicht. Bei Kindern kommt es sogar ziemlich oft vor, man schätzt eine Häufigkeit bis zu dreißig Prozent. Meist verschwindet dieser ›Somnambulismus‹ mit Einsetzen der Pubertät. Die neuesten Erkenntnisse besagen, dass die Ursache in einem gestörten Aufwachmechanismus liegt. Oft dauert es nur wenige Minuten. Bei den Erwachsenen sind etwa ein Prozent betroffen, und das Phänomen kann jederzeit wieder verschwinden. Es gibt verschiedene Erscheinungsformen. Fast alle sind ungefährlich. Wir sollten das vorerst im Auge behalten. Es wäre nützlich, wenn Sie notieren, wann Sie geschlafwandelt sind und wo Sie sich dabei befanden, falls Sie erwachen. Im Anschluss könnte man über
eine Untersuchung in einem Schlaflabor nachdenken. Dort wird ein Schlaf-EEG, also ein Hirnstrombild angefertigt. Alles ganz schmerzlos natürlich.« Er lächelte.
Mia dachte über die Erläuterungen des Arztes nach. Das klang alles ganz plausibel. Vielleicht war sie nicht halb so verrückt, wie sie geglaubt hatte.
»Gibt es denn sonst noch Dinge, die Sie beunruhigen?«
»Ich bin dauernd erschöpft, aber ich kann Ihnen nicht sagen, wovon. Vielleicht ist es das Schlafwandeln?«
»Das könnte sein. Sie arbeiten beim Jugendamt?« Er hob fragend die Augenbrauen, wohl, um sie zum Sprechen zu animieren, denn diese Informationen hatte er schon.
»Ja. In Leipzig.«
»Das ist sicher ein anstrengender Job. Machen Sie viele Überstunden?«
»Öfters. Aber die Kinder liegen mir am Herzen. Ich kann nicht Dienst nach Vorschrift machen, wenn die Kinder darunter leiden.«
»Das verstehe ich, Frau Sandmann.« Er wartete, bis sie ihn ansah, dann fuhr er fort: »Sie sagten vorhin, Sie hätten Probleme.«
Er hat dich durchschaut! Jedes deiner Worte ist registriert! Du hast
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