Sensenmann
einigen anderen Kollegen noch nie ausgenutzt.
»Das kann ich momentan ganz schlecht einschätzen. Dazu müssten wir tiefer schürfen. Vielleicht wissen wir beim nächsten Mal schon mehr. Sie sollten sich aber auf mehrere Wochen einrichten. Am Anfang treffen wir uns mindestens zweimal die Woche, später können wir auf einen Termin reduzieren.« Mark Grünthal war aufgestanden, und auch Mia erhob sich. »Schwester Annemarie wird mit Ihnen die konkreten Daten vereinbaren.« Er ging zur Tür und öffnete sie. Die Sprechstundenhilfe wartete schon.
Nachdenklich blickte Mark der Frau hinterher. Sie war interessant und vielschichtig. Und hatte eindeutig Probleme. Irgendetwas hatte die Lawine der geschilderten Ereignisse in ihr ausgelöst. Aber er wusste noch zu wenig über seine neue Patientin, um etwas dazu sagen zu können.
26
Mittwoch, der 29.07.
Liebe Mandy,
da bin ich wieder. Wie Du am Datum erkennen kannst, hat es fast zwei Wochen gedauert, bis ich Dir den nächsten Brief schreiben konnte. Da die ersten beiden noch in meiner Schatulle liegen, ist es jedoch egal, wie groß der Zeitraum zwischen
ihnen ist, denn Du bekommst sie ja nicht im gleichen Abstand zugeschickt, wie ich sie verfasse.
Vielleicht sende ich schon bald den ersten Brief an Dich ab. Fischgesichts Tod liegt ja nun schon drei Wochen zurück. Du musst mir nur versprechen, alles für Dich zu behalten – tust Du das, meine kleine Mandy?
Fragst Du Dich nun, warum es so lange gedauert hat, bis ich Dir wieder etwas Neues berichten konnte? Ich will es Dir erklären.
Es lag daran, dass ich eine Art Blackout hatte, dass ich mich weder an Namen noch an Gesichter, geschweige denn an weitere Details erinnern konnte. Ich fischte im Trüben. Das hat mich ziemlich runtergezogen, wie Du Dir vorstellen kannst.
Wie soll man seine Peiniger finden und bestrafen, wenn man nicht einmal mehr weiß, wie sie hießen oder was sie mit den Kindern gemacht haben?
Der Zufall (oder vielleicht war es auch gar kein Zufall, sondern eine höhere Fügung?) brachte mich weiter: Ich fand eine neu angelegte Internetseite über unser Kinderheim. Stell Dir vor, da setzt sich jemand hin und gestaltet freiwillig eine Website zu diesem furchtbaren Ort!
Ich habe dem Verfasser eine Mail geschrieben. Er heißt Sebastian Wallau. Du wirst ihn nicht kennen, weil er erst nach uns ins Heim gekommen ist.
Wir haben uns ausgetauscht. Ich schrieb ihm von meiner Zeit im Heim und dass ich auf der Suche nach ehemaligen Gefährten bin. Dieser Sebastian hat mir viele neue Informationen und Denkanstöße gegeben. Und so ist mein Gedächtnis ein wenig aufgefrischt worden …
Wer es ist, fragst Du mich? Ich muss ein wenig lächeln, meine kleine Mandy. Du warst früher schon immer so überaus wissbegierig.
Und nur der Form halber – Du solltest Dich nicht erkundigen, wer es ist, sondern wer es war. Jetzt lächelst Du auch, nicht wahr? Denn wenn Du erst einmal den ersten und zweiten Brief gelesen hast, wirst Du wissen, dass ich Dir immer dann schreibe, wenn ich einen Fall abgeschlossen habe.
Schließ kurz die Augen, und stell Dir eine kleine dickliche Frau mit Mopsgesicht vor. Siehst Du sie vor Dir? Frau Sagorski war ab Mai 1984 Heimleiterin im ›Ernst Thälmann‹.
Ich hatte diese Person vollkommen vergessen. Erst nachdem mein neuer Brieffreund mir den Namen gemailt hatte, fiel es mir wieder ein, wenn ich selbst mich auch nicht darauf besinnen konnte, dass sie mir persönlich Schaden zugefügt hätte.
Gestern Nacht habe ich sie mir vorgeknöpft. Auf eine neue Art und Weise. Ich habe es zuerst aussehen lassen, als sei es eine Erpressung wegen ihrer damaligen Vergehen. Sie hat sich darauf eingelassen, und das war für mich der endgültige Beweis, dass sie Dreck am Stecken hatte.
Auf einer abgelegenen Waldlichtung befragte ich sie ausführlich, nachdem wir ein bisschen mit ihrem Auto durch die Gegend gefahren waren.
Ja, ja, liebe Mandy, ich weiß. Ich hatte nach der Causa Meller geschrieben, dass ich niemanden mehr mit dem Wagen transportieren wollte, aber es ging in diesem Fall nicht anders. Das Risiko, sie zu Hause zu erledigen, war zu groß: Ich kannte weder die Wohnverhältnisse in ihrem Eigenheim, noch wusste ich, ob Angehörige dort lebten. Und ich war ja auch nicht allzu lang mit dem »Paket« im Kofferraum unterwegs. Letzten Endes zählt immer das Ergebnis, nicht?
Und so kam es, dass unsere ehemalige Heimleiterin den Weg alles Irdischen ging, um es poetisch
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