Sensenmann
umgestürzten Baumes und zückte sein Notizbuch.
»Über jedes Heimkind gab es ein solches Dossier. Am Anfang befand sich die Heimeinweisungskarte. Jedem Zögling wurde dann von uns ein persönlicher Betreuer zugeordnet. Dieser beobachtete das jeweilige Kind, führte Gespräche und nahm Eintragungen in die Akte vor. Von Zeit zu Zeit wurden diese Dokumentationen mit dem Jugendamt besprochen.« Matthias legte seinen Zorn, der bei den bürokratischen Ausdrücken wie »Zögling« oder »Betreuer« hochkriechen wollte, an die Kette. Noch brauchte er ihre Kooperationsbereitschaft. Zumindest log sie nicht. Genau das, was sie ihm eben erzählt hatte, hatte auch Sebastian Wallau in seiner letzten E-Mail geschrieben. Er wischte die Frage, warum er selbst sich nicht an seinen »persönlichen Betreuer« und die Gespräche mit ihm erinnern konnte, beiseite. Darüber konnte er später nachdenken. »Wo wurden diese Akten gelagert?«
»Solange der Zögling bei uns im Heim war, haben wir sie dort behalten.«
»Und danach?«
»Wurden sie noch zehn bis maximal fünfzehn Jahre aufbewahrt. Das hing unter anderem vom Platz im Archiv ab.«
Der Zorn in Matthias’ Bauch hatte sich aufgerichtet und zerrte an seinen Fesseln. »Das bedeutet also, heute sind alle Akten aus dem Kinderheim ›Ernst Thälmann‹ vernichtet?«
»Nicht unbedingt. Außer der Heimakte gab es in den zuständigen Jugendämtern noch Adoptions- und Erziehungshilfeakten für jeden Zögling. Darüber weiß ich allerdings leider nichts.«
»Wo könnten diese Dokumente heute sein?«
»In den Archiven der zuständigen Jugendämter oder im Landesarchiv.« Die Sagorski bewegte den Hals von rechts nach links. »Mir tut alles weh. Vielleicht könnten Sie meine Fesseln ein wenig lockern.« Es klang weinerlich, aber Matthias meinte, einen beleidigten Unterton herauszuhören. Glaubte die Frau, ihn mit diesen vagen Auskünften zufriedengestellt zu haben?
»Liebe Frau Sagorski – wir sind noch nicht fertig. Gedulden Sie sich ein wenig. Das Wichtigste fehlt noch.« Sie hatte ihn mit der Erwähnung der Akten von seinem ursprünglichen Fragenkatalog abgelenkt. Es wurde Zeit, zum eigentlichen Anliegen dieses »Treffens« zurückzukehren. Mal sehen, wie die Heimleiterin mit der Erkenntnis fertigwurde, dass sie nicht wegen ein paar unwichtiger Fragen zu ihren ehemaligen Kollegen hier war.
Matthias klappte sein Notizbuch zu und legte es neben den umgestürzten Baum ins weiche Moos. Für das, was jetzt kam, brauchte er seine Stichpunkte nicht. Er erhob sich und trat dicht vor die Frau. »Können Sie als Heimleiterin mir sagen, ob die Kinder bei Ihnen immer menschenwürdig behandelt wurden?«
Die Sagorski zögerte. Ihr Mund öffnete sich, dann schloss sie ihn wieder und presste die Lippen aufeinander. Am giftigen Funkeln ihrer Schweinsäuglein konnte er erkennen, dass sie wusste, worauf seine Frage hinauslief, sich aber entschlossen hatte, nichts mehr zu sagen.
»Na? Sie waren doch eben noch so gesprächig! Warum auf einmal so still?« Er versetzte ihr einen Schlag auf die schlaffe Haut der Wange. Das wütende Glitzern ihrer Augen verstärkte
sich. Ohne die Fesseln hätte sie wahrscheinlich zurückgeschlagen. Diese Leute lernten es nie. Wussten nie, wann es genug war, wann es besser für sie war, ihre Wut in den Griff zu bekommen.
»Ich frage Sie noch einmal: Haben Sie und Ihre Kollegen die Ihnen anvertrauten Kinder, die Sie so abfällig ›Zöglinge‹ nennen, immer anständig behandelt?«
»Nicht alle fügten sich den Regeln.« Das presste sie zwischen fast geschlossenen Lippen hervor, als sei es eine Erklärung für ihr eventuelles Fehlverhalten.
»Ach so. Und das hatte zur Folge?«
»Verstehen Sie doch, wir mussten einige von ihnen disziplinieren. Manche kamen aus asozialen Elternhäusern, waren keine Ordnung und Manieren gewöhnt!« Der hochmütige Zug um den Mund war noch immer da.
»Wie sind Sie dabei vorgegangen?«
»Wobei?«
»Beim Disziplinieren, wie Sie es so poetisch ausgedrückt haben.«
»Äh, wir …« Sie zögerte, dachte wohl darüber nach, wie sie die Quälereien mit harmlosen Worten umschreiben konnte. »Es gab verschiedene Maßnahmen.«
»Welche?« Matthias horchte in sich hinein. Er hatte sich vorgenommen, geduldig zu sein, sich nicht von blinder Wut überrennen zu lassen. Die Frau sollte von selbst darauf kommen, was sie falsch gemacht hatte.
»Das hing von den Verfehlungen ab.«
»Frau Sagorski!« Jetzt war er doch ein bisschen lauter
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