Sensenmann
»Probleme« gesagt – Mehrzahl, Mia! Niemand geht doch nur wegen Erschöpfung und gelegentlichem Schlafwandeln zu einem Hirnklempner! Halt dein elendes Schandmaul. Das weiß ich selbst. Ich habe nur überlegt, wie ich mich am besten ausdrücken soll!
»Ich höre manchmal Stimmen.« Mia zwang ihre Finger auseinander, die sich schon wieder ineinander verknoten wollten. »Sie kommentieren das, was ich mache, oder geben Ratschläge. Manchmal machen sie sich auch über mich lustig. Das ist nicht nur lästig, sondern auch nervtötend. Ich kann es auch nicht immer abstellen. Neulich habe ich sogar laut geantwortet. Ich fürchte mich davor, dass mir das eines Tages auf der Arbeit passiert!«
»Sie machen sich Sorgen, das verstehe ich sehr gut. Aber viele Menschen führen einen inneren Monolog. Nicht wenige reden wie Sie mit sich selbst.« Anscheinend wollte ihr dieser Doktor Grünthal das Gefühl vermitteln, es sei alles nicht so schlimm. Mia wusste nicht, ob sie das gut oder schlecht fand.
»Ab und zu träume ich schreckliche Dinge. Erlebnisse von früher.« Mehr brachte sie nicht heraus.
»Erlebnisse von früher?« Die klassische Seelenklempner-Masche. Statt zu antworten wiederholt er deine Aussage. Damit will er dich dazu bringen, noch mehr auszupacken.
»Aus meiner Kindheit. Ich war in einem Kinderheim.«
»Und davon träumen Sie?« Schnell huschte der Kugelschreiber über die Karteikarte, während er sprach. Mia versuchte zu erkennen, was der Arzt da schrieb, aber es gelang ihr nicht.
»Ich träume in der Nacht davon, und ich habe Erinnerungsblitze am Tag. Das nennt man Flashbacks, nicht wahr?«
»Ich sehe, Sie kennen sich aus!« Ein anerkennendes Lächeln huschte über das kantige Gesicht.
Er will dich einlullen!
»Ach was!« Mia schlug sich die Hand vor den Mund. »Sehen Sie! Jetzt habe ich der Stimme geantwortet!«
»Was hat sie denn gesagt?« Dr. Grünthal hatte sich nach vorn gebeugt.
»Er will dich einlullen.«
»›Er‹ – damit bin ich gemeint?« Mia nickte knapp. »Scheint nicht mit mir einverstanden zu sein, Ihre innere Stimme.« Er lächelte breit. »Wie sehen Sie denn das Ganze?«
»Ich brauche Hilfe, sonst wäre ich nicht hier.« Jetzt war sie wieder ganz die lebenstüchtige Geschäftsfrau, die ein paar Schwierigkeiten hatte. »Mit Sicherheit gibt es in jedem Menschen Widerstände gegen eine psychotherapeutische Beratung. Aber ich bin mir bewusst, dass ich diese überwinden muss. Und ich möchte endlich wieder normal funktionieren, so wie all die
Jahre vorher. Dieses ständige Getuschel in meinem Kopf, diese schauderhaften Retrospektiven, das alles muss aufhören. Mich nervt das. Und da ich es anscheinend nicht allein schaffe, brauche ich Ihren Beistand.«
Der Gesichtsausdruck des Arztes hatte sich, während sie sprach, von gutmütig zu ernst und konzentriert gewandelt. »Das heißt, diese Stimmen und Träume sind erst in letzter Zeit aufgetreten?«
»Ja.«
»Wissen Sie, seit wann?«
»Nein. Es begann schleichend. Ich kann Ihnen keinen Auslöser nennen.«
»Nun gut, Frau Sandmann. Wir werden uns bemühen, das herauszufinden. Nur wenn wir die Ursache kennen, können wir auch an die Beseitigung der Folgen gehen.« Mark sah zur Uhr. »Erzählen Sie mir noch ein bisschen über sich.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Alles, was Sie mir mitteilen möchten. Kindheit, Eltern, Geschwister – so Sie davon wissen oder sich erinnern, Ihr Werdegang. Wie leben Sie heute? Was interessiert Sie? Womit beschäftigen Sie sich in Ihrer Freizeit?«
Während Mia redete, machte der Arzt sich in seiner unleserlichen Schrift Notizen. Ab und zu nickte er ihr ermunternd zu. Du machst das prima, sollte das wohl heißen.
»Gut, Frau Sandmann, danke. Wir sind leider am Ende unserer Zeit. Lassen Sie uns nach den nächsten Terminen schauen. Wie oft pro Woche und an welchen Tagen könnten Sie denn kommen? Von Leipzig bis Berlin ist es ja doch ein ganz schönes Stück.«
»Mittwochs und freitags würde es gehen. Eventuell auch montags. Wir haben Gleitzeit, und ich könnte Überstunden abbauen.«
»Ab sechzehn Uhr?« Er wartete ihr Nicken ab und kritzelte dann wieder etwas auf seine rosa Karteikarte.
»Wie lange wird denn die Behandlung dauern?« Von ihrer Krankmeldung sagte Mia nichts, obwohl sie vorgehabt hatte, den Arzt um eine Bescheinigung zu bitten. Es widerstrebte ihr plötzlich. Sie konnte auch ohne Krankschreibung bis zu drei Arbeitstage fehlen. Und sie hatte die Regelung im Gegensatz zu
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