Sensenmann
hier nicht einfach freilassen konnte. Nicht nur, dass sie ihn und seine Geschichte jetzt kannte, es wäre für die Polizei auch ein Leichtes, aus den Schilderungen der Heimleiterin Parallelen zu ziehen, was mit Siegfried Meller und Isolde Semper geschehen war. Und damit wäre sein Rachefeldzug mit einem Schlag beendet, und das jetzt, wo er neue Namen hatte, um die er sich kümmern konnte. Tut mir leid, Frau Sagorski, aber das geht nicht.
Außerdem hatte sie genug Verfehlungen gestanden, um sein Gewissen zu beruhigen. Die Frau hatte ihre Strafe redlich verdient. Nicht nur, weil sie selbst Kinder gequält hatte, nein, als Leiterin einer solchen Einrichtung wäre sie verpflichtet gewesen, ihre Angestellten zu kontrollieren und deren Schikanen und Misshandlungen zu verhindern. Nichts davon hatte sie getan.
»Schön, dass Sie es bedauern.« Er blickte ihr in die Augen, sah Trotz, gemischt mit Entrüstung, und dahinter Furcht. Aber keine Reue. Wie von selbst fanden seine Finger den Schal, der rechts über dem Baumstamm hing. Schritt für Schritt tastete er sich um die Sackkarre herum zur Rückseite. Die Sagorski begann, ihn wüst zu beschimpfen. Als er ihr den Schal um den Hals legte, verlegte sie sich aufs Flehen. Dann gurgelte und röchelte sie nur noch.
Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben. Matthias fröstelte und lauschte in die Nacht, aber der Wald war viel zu still. Dann fiel sein Blick auf den grauen Haaransatz vor ihm. Die Heimleiterin hing schlaff in den Fesseln, der Kopf war zur Seite gesunken. War sie tot? Vorsichtig, um nicht zu stolpern, ging er um das Gefährt herum und betrachtete das geschwollene Gesicht aus der Nähe. Die Augen waren halb geöffnet, die Iris getrübt. Wie ein Stück schwärzliches Fleisch hing die Zunge halb aus dem Mund. Der Schal hatte sich so tief in ihren fleischigen Hals eingegraben, dass er von zwei Hautfalten fast überdeckt wurde.
Matthias musste nicht nach ihrem Puls suchen, um zu wissen, dass sie nie wieder Bedauern heucheln würde.
Der Mond kam wieder hervor und färbte die Ränder einer von ihm wegdriftenden Wolke silbrig. Es war an der Zeit, das, was von der Heimleiterin noch übrig war, einzugraben. Matthias holte den Klappspaten und das Teppichmesser aus der Tasche. Er musste den Tatort noch von Spuren säubern, das Auto der Heimleiterin an einen unverdächtigen Ort bringen und sein eigenes aus dem Wäldchen bei der Schnellstraße abholen. Allerhand zu tun, bis der Morgen kam.
Und auch dann konnte er sich nicht ausruhen. Interessante Aufzeichnungen und neue Namen harrten ihrer Erkundung.
25
Mia schaute kurz auf den winzigen Bildschirm des Navigationsgerätes und richtete den Blick dann wieder auf die Straße. Die A9 schwang sich in weiten Bogen durch ein Waldgebiet. Halb drei. Sie lag gut in der Zeit. Der Motor schnurrte beruhigend, während die Räder Kilometer fraßen. Mia trat das Gaspedal noch ein bisschen weiter durch. Sie gähnte und hielt sich die rechte Hand
vor den Mund, während sie mit der linken das Lenkrad umklammerte. Seit dem Anruf gestern Morgen hatte sie unentwegt darüber nachgedacht, den Termin bei Doktor Grünthal wieder abzusagen, und war alle halbe Stunde zu einer anderen Entscheidung gekommen. In ihrem Kopf hatten die Stimmen miteinander diskutiert und gestritten, und Mia war das Gefühl nicht losgeworden, dass sie selbst nur eine unbeteiligte Zuhörerin war. Die Entscheidungen trafen andere. Auch zwei Kopfschmerztabletten, in kurzem Abstand hintereinander eingenommen, hatten das innere Getöse nicht vermindert. Sie war froh, sich heute krankgemeldet zu haben und nicht ins Amt zu müssen. Den Small Talk der Kollegen, die dauernden Anrufe und all das Leid in den Akten hätte sie heute nicht ertragen. Vielleicht konnte ihr der Psychotherapeut eine Krankschreibung ausstellen. Nur für den Rest der Woche. Nach ein paar Tagen der Ruhe wäre sie mit Sicherheit wieder funktionsfähig.
Mia sah das Schild mit der Geschwindigkeitsbegrenzung im letzten Moment und bremste. Noch zwei Kilometer bis zum Berliner Ring. Wenn es auf der Stadtautobahn nicht noch irgendwo Stau gab, war sie eine halbe Stunde vor dem Termin in Charlottenburg.
Unsichtbare Bodenwellen versetzten das Auto in Schwingungen. Das leise Gedudel aus dem Radio nervte plötzlich. Gab es denn hier keine vernünftigen Sender? Mia ließ die Programme durchlaufen, bis sie einen Nachrichtensender gefunden hatte, und kniff dabei mehrmals die Lider fest zusammen, nur um sie gleich
Weitere Kostenlose Bücher