Sentry - Die Jack Schilt Saga: Die Abenteuer des Jack Schilt (German Edition)
und Kälte ihren Tribut. Kein schutzloses Lebewesen hätte eine Nacht in dieser Eishölle überdauert – dennoch erwache ich wieder. Wie wenig Mensch ich noch darstelle, kümmert kaum. Besessen von der pulsierenden inneren Stimme kämpfe ich mich hoch und weiter geht es, immer weiter hinauf in die schwindelerregenden Höhen des Großen Barrieregebirges, das meines Wissens noch nie ein Mensch gemeistert hat.
Wie viele Wochen die Überquerung des steinernen Meeres dauerte, in wievielen Sackgassen ich steckte, zu wievielen Umwegen es mich zwang, all dies zählt nicht. Was jedoch zählt, ist der Blick hinüber auf die andere Seite. Irgendwann erblicke ich endlich die weite Ebene, ein sandfarbener Ozean, der sich viele Meilen tief unter mir auftut. Wenige Einzelheiten lassen sich erkennen, so hoch throne ich über allem. Eisiger Wind gefriert meine stoßweise kommende Atemluft zu kleinen flimmernden Eispartikeln. Die im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubende Höhe, der Blick hinunter in das unendlich tiefe Tal, lassen mich einen Moment taumeln. Schon seit Tagen fällt mir das Atmen unbeschreiblich schwer.
Da liegt es also, das geheimnisumwitterte namenlose Land westlich des Barrieregebirges, der mir gänzlich unbekannte Teil Gondwanalands. Irgendwo dort müssen Menschen verweilen, wie auch immer sie dort hingekommen sein mochten. Ein neuer Schub Vorfreude erfüllt meinen geschundenden Körper mit frischer Kraft, die jedoch nicht lange vorhält. Die übermenschlichen Anstrengungen der vergangenen Wochen fordern ihren längst erwarteten Preis. Dieser Moment hatte kommen müssen, ich wundere mich nur, wie lange er auf sich warten ließ. Wie kann es sein, dass Wind und Wetter, Frost und Hitze, Eis und Schnee, Hunger und Durst mir so lange nichts anhaben konnten? Seit Tagen ernähre ich mich nur von Schnee, es schien immer zu reichen. Jetzt verlangt mein vor Hunger und Kälte zitternder Körper nach handfester Nahrung – und ich verfüge nicht einmal mehr über Pfeil und Bogen, allen lästigen Ballast habe ich längst zurückgelassen. Eingewickelt in die alten verfilzten Skirrethäute finden sich im Rucksack nur noch ein Feuerstein, meine Aufzeichnungen und ein letzter Kohlestift. Außerstande auch nur an den weiteren Abstieg zu denken, finde ich Zuflucht in einer Felsnische, wo es mir gelingt, ein wärmendes Feuer zu entfachen. Hier erwarte ich die Nacht und bringe einem tröstenden Ritual gemäß meine Aufzeichnungen auf den neuesten Stand. Nichts zu essen. Morgen werde ich die andere Seite erreichen und das Gebirge endlich hinter mir lassen. Im Tal lässt sich gewiss eher etwas Essbares auftreiben als hier in eisiger Höhe. Ich werde es einfach dem guten alten Luke nachmachen und ein paar Knollen ausgraben.
Irgendetwas wird sich schon finden.
Ganz bestimmt.
41 DER LETZTE SEINER ART?
Seit zwei Tagen, so schien es, hatte sich das Signal nicht mehr bewegt. Diese Tatsache beunruhigte mich. All die vorangegangenen Wochen war es beständig stärker geworden, hatte es sich angenähert... und nun Stillstand. Den bohrenden Hunger missachtend bewegte ich mich unaufhaltsam auf die weiße Wand zu, auf den riesigen Gebirgszug, der diesen Kontinent in zwei Teile aufspaltet. Seit Tagen sah ich ihn auf mich zukommen. Ungewöhnlich klare Sicht und wolkenloser Himmel ließen keinen Zweifel: dieses mächtigste aller Gebirge war schon aufgrund seiner schieren Größe unüberwindlich.
Meinem Gefühl nach zu urteilen stellte sich diese Aufgabe jedoch gar nicht. Schon gestern Morgen, gleich nach dem Erwachen, fühlte ich es deutlich: sie befanden sich bereits in Kenorland. Es war ihnen gelungen, das Gebirge zu bezwingen. Meine Achtung vor ihrer Leistungsfähigkeit wuchs, wenn dies überhaupt noch möglich war. Wieso aber verharrten sie jetzt an Ort und Stelle? Vermutlich hatten sie sich niedergelassen, um sich von dem beschwerlichen Abstieg zu erholen. Womöglich war einem etwas zugestoßen und zwang die anderen zu unfreiwilligem Aufenthalt. Wie viele es wohl sein mochten? Handelte es sich um eine Gruppe oder am Ende nur um einen Einzelnen? Nun, das würde sich bald zeigen. Es konnte nicht mehr lange dauern. Frisch gestärkt und zuversichtlich startete ich in den neuen Tag. Doch schon kurz darauf geschah etwas, das mich zutiefst erschreckte.
Das Signal schwächte sich deutlich ab, drastischer als jemals zuvor.
Hatte ich eine falsche Richtung eingeschlagen? Nein, unmöglich. Das konnte nicht sein, das durfte nicht sein!
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