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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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New York nicht mehr gesehen hatte
    am vorletzten Tag meines Aufenthaltes
    nachdem alles geregelt war (wie man behaupten kann wenn es um nichts mehr geht)
    sprachen wir ein einziges Mal über Sabrina nachdem wir über meine Mutter geredet hatten die ihre amerikanische Enkelin sehr ins Herz geschlossen und mit einfühlsamen und verlässlich eintreffenden Geschenken bedacht hatte bis zuletzt
    Lotta meinte mit einem etwas gereizten Unterton dass es eigentlich doch möglich gewesen wäre öfter nach Deutschland zu kommen
    es gelang mir nicht ihr Verhältnis zu Sabrina genauer zu verstehen ich wollte etwas über ihre gemeinsame Europa-Reise erfahren und bekam nur zu hören
    dass Sabrina zu Beginn »extrem vorsichtig« gewesen sei und später dann
    lockerer
    wenn ich von meinem Arbeitszimmer das im ersten Stock eines Backsteinhauses nahe am Campus liegt hinausschaue sehe ich jeden Morgen Dutzende von Studenten im Alter meiner blonden deutschen Nichte vorbeigehen im Unterricht (diese 16 Stunden die ich an der Bostoner Tufts University vertretungsweise übernommen habe um Luisa näher zu sein und um mich ein weiteres Jahr nicht entscheiden zu müssen) rücken sie mir kaum näher
    ich habe gelernt
    ihnen diese Distanz zu lassen das heißt zu versuchen jedem mit der gleichen Freundlichkeit so nahe zu kommen dass ihm ein eigener Raum bleibt er aber das Interesse des Lehrers an seinem Fortkommen spürt es ist gleichsam ein beharrliches Auf-der-Schwelle-Stehenbleiben
    zumindest war es das früher einmal jetzt aber sitze ich nur
    draußen
    auf einer Bank im Park und hoffe dass sie mich sehen und dass ihnen das genügt
     
    Maryann Davenport (22)
    Michael Berenger (24)
    Jonathan Mailer (22)
     
    Stuart springt aus dem Humvee den er bis nah an die umkämpfte Euphrat-Brücke vor Nasiriyah gefahren hat in einem Pulk anderer Humvees und Lastwagen die schneller vorankamen als die Panzer eine schwarze Rauchsäule steigt in die Höhe (rechts etwa fünf Uhr) aus dem Nichts mit einem Donnerschlag und einer Druckwelle die für einen Augenblick die Zähne in zerspringendes Porzellan zu verwandeln scheint und die Körperhaare in gesträubte gläserne Borsten die Schrapnelle der Mörsergranaten haben einen Vorderreifen zerfetzt aber sonst anscheinend nichts die weiteren Einschläge erfolgen so nah und sind so laut dass die Ohren nicht mehr aufhören zu klingeln das hässliche wütende Geräusch des Gewehrfeuers scheint unwirklich gedämpft als hätte man es wie den Ton eines Radios leiser gedreht und einzelne Kugeln pfeifen scheinbar harmlos durch die Luft wie in einem Zeichentrickfilm und plötzlich ist es ganz still als warteten alle (Freund Feind) auf das Eingreifen einer dritten Partei oder Macht
    ein athletischer Zwanzigjähriger
    in einer der vorderen Reihen zumeist
    sehr aufmerksam ja beinahe schon zu konzentriert zu angespannt
    als ginge es um viel mehr als um Werthers Leiden eine Novelle von Kleist oder Aphorismen von Schopenhauer er hält sich vollkommen aufrecht anscheinend steht er unter einer ständigen inneren Anspannung die ihn fast vibrieren lässt er ist zu ernst zu verbissen um originell zu sein
    wenn man Granateinschläge in unmittelbarer Nähe überlebt hat soll sich eine nahezu überirdische Heiterkeit einstellen die sekunden- oder minutenlange gefährliche Illusion göttergleicher Unverletzlichkeit
    wenn die in dein Arschloch geflogen wäre! ruft Jonathan direkt aus einer flachen Sandkuhle heraus in die er sich gepresst hat er ist der Zweite von rechts auf jenem Mannschaftsraum-Foto des Zuges auf dem er ein großesKampfmesser schwingt während Stuart selbst (Erster von links) sein Sturmgewehr auf die Füße von Michael richtet der sich das grüne T-Shirt bis über die Brustwarzen emporgezogen hat und sich mit obszön von unten her kommendem Blick an den Penis fasst genau wie jetzt im Sand vor Nasiriyah wo er ihn im Liegen aus der Uniform zerrt um auf die Seite zu urinieren keiner will sich einnässen wie eine Memme mitten im Gefecht die Aufputschmittel das Adrenalin der direkt aus den aufgerissenen Tüten gelöffelte Nescafé die Angst die Übermüdung des seit 30 Stunden schlaflos im Einsatz vorangetriebenen Körpers verwandeln
    alles
    in einen hyperrealen dreidimensionalen Film in dem man jedes Steinchen jeden Lichtreflex auf dem Metall der Waffen der Helme der Fahrzeuge jeden Schweißtropfen der Kameraden jedes Härchen auf der eigenen um den Gewehrgriff gebogenen rechten Hand am Abzug unter einer Lupe zu sehen glaubt

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