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September. Fata Morgana

Titel: September. Fata Morgana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Lehr
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Geheimdienst gepresste Familienväter jugendliche Fedajin deren Angehörige einen Schuhkarton voll Dinare erhielten aus der Nähe betrachtet gibt es auch im Süden und in den schiitisch dominierten Städten und Ortschaften kein Willkommen sondern allenfalls abwartende Gleichgültigkeit stummes Zähneknirschen eine Passivität Lethargie verbissene Wut durch die man sich hindurchbombt -fräst -schießt
    aber was weiß ich schon man betrachtet alles von oben was wusste ich damals (vor über einem Jahr) in Berlin
    am Krankenbett meiner Mutter starrte ich auf die Illustrierte in meinerHand auf diese asphaltgrauen feinst detaillierten Satellitenaufnahmen als schwebte ich gerade 3000 Meter hoch über dem zehntausendfach von Hausdächern parzellierten Bagdad durch das sich verkrampft wie eine Darmschlinge ein teerschwarzer Fluss wand kleine rote gelb gerandete irreguläre Sterne prangten überall die Hauptangriffsziele wie es hieß beziehungsweise (und wie selbstverständlich identisch damit) die durch Luftangriffe bereits zerstörten oder schwer beschädigten Gebäude
    heute
    von Boston aus
    sehe ich mich selbst als eine solche Miniatur ich spüre dann fast nur noch einen
    Satellitenschmerz
    wenn ich mich auf den Fluren des Krankhauses sehe oder während der letzten verworrenen Gespräche mit meiner Mutter die mich einmal für den Zehnjährigen hielt der ich gewesen bin und dann wieder für einen Altersgenossen dessen Namen sie vergessen hatte einen Schulkameraden oder Nachbarn eine ungeheure
    Entfernung
    das war im Grunde meine einzige Rettung
    über dieses weiß-graue Linoleum eines Berliner Krankenhausflurs gehen und auf nichts mehr achten als wäre es eine schmale Brücke aus Sternenstaub im Weltraum die beim übernächsten Atemzug mitsamt dem Universum verschwinden würde
    ohne Kommentar
    bevor ich nachts zu lesen und zu weinen versuchte und schließlich in den beginnenden Krieg im Irak tauchte um mein Bewusstsein mit fluoreszierendem Schrecken zu verwunden so dass ich einschlafen konnte ging ich ein oder zwei Stunden lang durch das eisige Berlin das ich immer noch gut kannte das sich an mich aber nicht im Geringsten zu erinnern schien (weshalb auch) ich hatte außer meiner Schwester und ihrer Familie denen ich nicht lästig fallen wollte niemanden mehr den ich hätte anrufen können und angesichts all dieser Dinge der Menschen vielmehr die mir endgültig entglitten waren und entglitten spürte ich manchmal eine seltsame kühle und freudlose
    Erleichterung
    eine weitgehende Verantwortungslosigkeit für meinen Zustand
    etwas wie eine gleichgültige Geburt
    in einem Bistro das ich betrat um mich auf dem Weg zum Hotel aufzuwärmen traf ich eine große aschblonde Frau in den Vierzigern mit einem Leberfleck auf der Oberlippe die mir bekannt vorkam es war eine der Krankenschwestern die ich bei meiner Mutter gesehen hatte sie wusste sehr viel über mich den »Herrn Professor« auch dass ich geschieden war und eine Tochter verloren hatte (aber nicht wie) man muss sich vorstellen
    dass ich seit Wochen in keinem sonderlich guten Zustand war also
    konnte ich mir ausmalen dass wir nach einer längeren Unterhaltung hastig und schweigend
    wie Leute die ein Geschäft abgeschlossen haben und es dann auch zu Ende bringen wollen nebeneinander hergingen in der Winternacht auf dem knirschenden Splitt der Bürgersteige versuchsweise auch einige Schritte lang untergehakt wobei ich (vielleicht) ihre kühle große langfingrige Hand hielt (mit Erregung und Schrecken als wäre sie bereits eines ihrer Geschlechtsorgane) es könnte sein
    dass mich das Aufblitzen von Triumph oder war es einfach nur ihr mädchenhafter Stolz auf einen besonderen Fang noch abwesender und nervöser machte als bei den drei oder vier kurzen Abenteuern in meinem eher frauenarmen Leben es könnte aber auch sein dass mich
    das Fremde die Wärme die verstörend wirklichen Details (der großzügige Hauseingang eines alten Berliner Mietshauses der Schachbrettfußboden ein enger Fahrstuhl mit manuell zu bedienenden hölzernen Klapptüren herumliegende blau-weiß gestreifte medizinische Taschenbücher und Hydrokulturpflanzen mit runden künstlichen Steinchen und feinen durchsichtigen Prüfröhrchen wie ich sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen hatte) in einen regelrechten
    Vergangenheitsrausch
    versetzten als wäre das hier ein Fehltritt
    in mein eigenes früheres Leben im Grunde handelt es sich nur um eine lebhafte
    Erinnerung
    denn ich bin eigentlich zu solchen Handlungen

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