Septimus Heap 04 - Queste
im Fenster?« Zum allerersten Mal hatte Septimus nichts dagegen.
Und so setzten sie, begleitet von Beetles Gebrumme – das bisweilen nur schwer von dem Gejammer aus der Tiefe zu unterscheiden war –, immer einen Fuß vor den andern und erklommen den immer weiter ansteigenden Bogen. Sie waren wahrscheinlich noch nicht länger als eine Viertelstunde auf der Brücke, als Jenna sagte: »Es wird flacher. Spürt ihr es? Wir müssten gleich auf dem höchsten Punkt sein.«
Bei dem Ausdruck »höchster Punkt« hatte Septimus plötzlich die Vorstellung, dass sie irgendwo im Nichts hingen. Die schwindelerregende Abwesenheit der Erde stieg von seinen Fußsohlen hinauf in seinen Kopf. Alles drehte sich. Er schwankte, kippte nach hinten und – wurde von Beetle aufgefangen. Das Lied vom Wiesel verstummte. »He, Sep, ruhig Blut! Immer sachte!«
Septimus war zu keiner Bewegung fähig. Er klammerte sich so fest an die Handläufe, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Jenna spürte, wie seine Angst auf sie übersprang. Ein langes, trauriges Klagen wehte aus dem Abgrund herauf, mal lauter, mal leiser, als erzähle es die einsame Geschichte der verlorenen Seelen, die dort im Nebel wohnten. Septimus lauschte verzückt. Er verspürte das sehnsüchtige Verlangen, sich in das weiche Kissen des Nebels fallen zu lassen und sich mit den Stimmen da unten zu vereinen. Er lockerte seinen Griff an den Handläufen. Im selben Augenblick hob sich eine Nebelschwade, und Jenna sah einen großen schwarzen Vogel über sie hinwegfliegen. Vor Überraschung hielt sie den Atem an.
Septimus erwachte aus seiner Benommenheit. »Jenna ... was ist das?«, krächzte er.
»Nichts, Sep.« Aber der Vogel hatte sie auf einen Gedanken gebracht.
»Sep, erinnerst du dich an den Flug-Charm?«
Bei Jennas Worten hatte Septimus das Gefühl, dass sich der Nebel in seinem Kopf lichtete. Er erinnerte sich daran, wie es war, wenn er den Charm in der Hand hielt, wenn die silbernen Schwingen auf dem Pfeil flatterten wie die Flügel eines winzigen Vogels und der Charm in seiner Hand surrte. Und während er daran zurückdachte, fühlten sich seine Füße auf einmal viel leichter an und nicht mehr so schwer, als seien sie an den wackligen Bohlen der Brücke festgemacht. Seine Beine waren nicht mehr wie Pudding, und die klagenden Stimmen in der Tiefe verlockten ihn nicht mehr, in den Nebel zu springen. Während hinter ihm wieder lauthals das Wiesellied angestimmt wurde, machte er einen Schritt vorwärts.
»Los, weiter«, sagte er. »Wir sind bald da.«
Septimus sah das Ende der Brücke nicht – er sah nur den Flug-Charm vor sich, sonst nichts. Doch als Jenna und Beetle die letzten Meter der Brücke hinabstiegen, tauchte nach und nach die karge Silhouette des Foryxhauses aus dem Nebel auf.
»Es ist riesig«, sagte Jenna.
Beetle ersetzte das Wiesellied durch einen lang gezogenen, leisen Pfiff.
Mit einem tiefen Gefühl der Erleichterung trat Jenna von der Brücke. Als sie sich hinkniete, um Ullr aus dem Rucksack zu befreien, merkte sie, dass ihre Augen vom Foryxhaus förmlich angezogen wurden. Es bot einen beängstigenden Anblick. Mehr wie eine Festung denn wie ein Haus ragte es vor ihnen empor, eine abstoßende Masse von Granitblöcken, die auf einem Felsen thronte. Wie auf Snorris Zeichnung bestand es aus einem hohen, achteckigen Gebäude in der Mitte, flankiert von vier achteckigen Türmen, die in den milchig weißen Himmel wuchsen und deren Zinnen von einer tief hängenden Schneewolke verborgen wurden. Ein paar kleine Fenster durchbrachen die glatte graue Fassade, aber sie schimmerten in einem sonderbaren Glanz – wie Öl auf Wasser. Jenna erinnerten sie an die Augen einer alten blinden Katze, die sie und ihre Freundin Bo einmal bei sich aufgenommen hatten.
Angespornt von der einundzwanzigsten Wiederholung des Wiesel-Liedes hatte Septimus schließlich das Ende der Brücke erreicht. Er trat von der letzten wackligen Bohle, und in einem Gefühl überschwänglicher Freude – er hatte es geschafft! – ließ er das Bild des Flug-Charms verblassen. Die Füße wurden ihm wieder schwer, und seine Stiefel hafteten wieder fest auf dem Boden. Unter Schmerzen versuchte er, seine Finger zu strecken, mit denen er die eisigen Handläufe umklammert hatte, doch sie gehorchten ihm nicht. Er schob die kalten Hände in die Taschen, und der Questenstein schlüpfte in seine rechte Hand und schmiegte sich an sie. »Er ist warm!«, entfuhr es ihm.
»Wovon redest du?«, fragte
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