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Serafinas später Sieg

Serafinas später Sieg

Titel: Serafinas später Sieg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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eine willkommene Abwechslung, Angelo hingegen würde mit Sicherheit alles daransetzen zu gewinnen. Würde das Unwetter ihm einen Strich durch die Rechnung machen? Die Vorstellung, daß Angelo mit seinem Schiff vom Angesicht der Erde verschwände, hatte einen unbestreitbaren Reiz. Auch für die Kingfisher würde das Gewitter eine Bewährungsprobe – die einzig wahre, aber Thomas zweifelte nicht daran, daß sie sie bestehen würde.
    Am folgenden Tag beobachtete der Fischer Jules Crau, wie zwei Galeonen in den Hafen von Marseille einliefen. Obwohl er Fischer war, besaß er kein eigenes Boot mehr. Er hatte einmal eines besessen – das Boot seines Vaters –, aber Alter und Witterungseinflüsse hatten ihre Spuren hinterlassen, und so liebevoll er es auch immer wieder herrichtete, irgendwann war es einfach nicht mehr seetüchtig. Also hatte er es zersägt und in einem besonders strengen Winter als Feuerholz verwendet. Das war vor vier Jahren gewesen, als seine Frau gestorben war – angeblich an einer Fehlgeburt, in Wahrheit jedoch an zuwenig Essen und zuviel Arbeit.
    Jules hatte ein Kind – ein siebenjähriges Mädchen namens Isabelle. Nach dem Verlust seines Bootes verlegte er sich darauf, auf den Booten anderer Fischer mitzuhelfen. Es brachte nie viel ein und in letzter Zeit so gut wie gar nichts mehr. Zu Zeiten von Charles de Casaulx war die Lage besser gewesen, doch der war im Februar ermordet worden. Jules hatte Monsieur de Casaulx bewundert und mit vielen anderen hurra geschrien, wenn er vorbeiritt. Er hatte Hoffnung vermittelt – aber damit war es jetzt vorbei. Niemand tat etwas für die Armen, und die Reichen wurden immer reicher.
    Wäre seine Tochter nicht gewesen, hätte er seinem Leben nach dem Tod seiner Frau ein Ende gemacht, aber Isabelle war ein guter Grund, es nicht zu tun. Also suchte er weiter Arbeit. Das Kind wäre hübsch gewesen, wenn es mehr zu essen bekommen hätte. Die Kleine hatte die dunklen Locken und die zarte Haut ihrer Mutter geerbt, doch im letzten Winter waren ihre Mundwinkel eingerissen, und Hoffnungslosigkeit zeigte sich in den großen dunklen Augen. Manchmal saß sie, die Hände im Schoß, stundenlang in einer Ecke der Hütte, die sie miteinander bewohnten, und starrte ins Leere.
    Jetzt lag sie zu Hause und schlief, denn Jules hatte sie aufs Land mitgenommen und ihr die Mohn- und Margeritenfelder gezeigt. Die Sonne schien, der Himmel war wolkenlos und dunkelblau, und die Natur duftete nach dem nächtlichen Gewitter frisch wie im Frühling. Jules trug seine Tochter auf seinen breiten Schultern durch die Felder, damit sie die Pracht bewundern konnte. Er spürte ihr Gewicht kaum, pflückte Gänseblümchen für sie und sang ihr Lieder vor. Einmal lachte sie sogar. Doch am späten Vormittag hatten sich ihre Augen umwölkt, und sie legte die Hand auf den Bauch und sagte, sie habe Schmerzen. Sie klagte so selten, daß er Angst bekam. Isabelles magere Beinchen gaben nach, und er mußte sie nach Hause tragen. Natürlich kannte er den Grund für ihre Schmerzen und die Schwäche: Sie war hungrig. Sie war ständig hungrig – ihr ganzes bisheriges Leben lang –, und er wußte mit schrecklicher Gewißheit, daß sie keinen weiteren strengen Winter überleben würde.
    Bei ihrer Rückkehr war sie so müde, daß er sie in eine Decke gewickelt und auf den Strohhaufen gelegt hatte, der ihr als Bett diente. Dann bat er eine Nachbarin, ab und zu nach ihr zu schauen, und ging wie üblich zu den Docks hinunter, um sich nach Arbeit umzusehen – und wie üblich fand er keine. Er wanderte an den Booten entlang, die an die Mole vertäut lagen. Die Fischer, die seine Freunde waren, schüttelten die Köpfe, murmelten etwas von schweren Zeiten, und seine Verzweiflung spiegelte sich in ihren Augen. Einer von ihnen drückte ihm ein Paket Miesmuscheln in die Hand, und er nahm die milde Gabe um Isabelles willen an.
    Wegen seiner Tochter konnte er auf keinem der Handelsschiffe anheuern: Er hatte niemanden, dem er sie hätte anvertrauen können, wenn er auf See wäre, und er wußte, daß ihr dünner Lebensfaden ohne seine Liebe und Fürsorge risse – und seine zerbrechliche Seele diesen Verlust nicht verkraften würde.
    Jules saß, die Miesmuscheln neben sich, auf einem Faß und sah zu, wie die beiden riesigen Galeonen andockten. Er konnte nicht lesen, erkannte jedoch an den Flaggen, daß die eine aus der Toskana kam, und die andere eine französische war. Einige der französischen Segel hingen, zu Fetzen

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