Serafinas später Sieg
freundlich: »Darf ich Ihnen für den Wein, den Sie durch meine Ungeschicklichkeit verschüttet haben, einen neuen spendieren, Monsieur …?
» … de Coniques«, erwiderte der Fremde unwillig.
Der Name kam Thomas irgendwie bekannt vor. Er rief nach dem Wirt, um für den Franzosen einen Wein zu bestellen, verabschiedete sich mit einem Nicken und verließ das Gasthaus. Als er draußen die kalte Luft einatmete, fiel ihm ein, wo er den Namen gehört hatte.
Serafina, das Mädchen, das er im Auftrag des Arztes Kara Ali von der Nordküste Afrikas nach Marseille gebracht hatte, erwähnte ihn, nachdem sie beim Bäcker einen Laib Brot gestohlen hatte und ihm draußen am Dock von ihren Angehörigen erzählte. Der Kusin, der Disponent, der Notar – und der Notar hieß Jehan de Coniques. Der betrunkene Angeber, mit dem er in der Gaststube zusammengestoßen war, hatte eine Notarsrobe getragen!
Nachdem er Serafina in Marseille verlassen – nein, nachdem sie ihn entlassen hatte –, hatte er kaum noch an sie gedacht, doch jetzt stellte er fest, daß er sich mit erstaunlicher Deutlichkeit an jenen Abend erinnerte, als er sie das einzige Mal in einem Kleid gesehen hatte. Während ihrer langen gemeinsamen Reise hatte er sie nicht als weibliches Wesen betrachtet, viel eher als Kind, manchmal sogar als Junge – doch damals an dem letzten Abend hatte sie ein dunkles, strenges Kleid getragen und ihr Haar auf gefällige Weise frisiert und erneut das Interesse in ihm geweckt wie seinerzeit auf der Tartane, als sie wie leblos neben ihm gelegen hatte. Ihre Wehrlosigkeit hatte seinen Beschützerinstinkt angesprochen. Beim Abschied in Marseille war sie kühl und abweisend gewesen, aber für einen Moment hatte er zu seiner Überraschung Leidenschaft in ihren sonst so ausdruckslosen Augen auflodern sehen.
Trotzdem war er froh gewesen, sie loszuwerden. Thomas hatte dem »Ruf der Natur« Folge geleistet und rückte seine Kleider zurecht. Er erinnerte sich daran, wie Serafinas Brotdiebstahl ihn schockiert hatte. Nicht weil das Diebesgut viel wert gewesen wäre – schließlich hatte er Gold gestohlen, mit dem er Tausende dieser Brote hätte kaufen können –, sondern wegen der Unbekümmertheit, mit der sie gestohlen hatte. Nicht weil sie es brauchte – einfach nur, weil sich die Gelegenheit bot.
Thomas schaute zu den Schiffen hinaus, die hinter dem dichten Regenvorhang nur schemenhaft zu erkennen waren. Monsieur de Coniques. War er tatsächlich der ehemalige Notar der Guardis? Thomas, der die Art von Neugier besaß, die Männer dazu veranlaßte, zu unbekannten Gestaden aufzubrechen, kehrte in das Wirtshaus zurück. Der Fremde saß mit dem Becher Wein, den er ihm spendiert hatte, an einem Tisch.
»Jehan!« sprach Thomas ihn an. Der Mann blickte auf. Thomas setzte sich ihm gegenüber. Seine Vermutung war also richtig gewesen! Noch immer herrschte Hochbetrieb in der Gaststube. Durch den Rauch des Kaminfeuers und die Ausdünstungen der vielen Menschen war die Luft zum Schneiden dick. Thomas ließ einen Krug Wein kommen. Er würde seine Wißbegier stillen und dann gehen. Der Notar wirkte in seiner voluminösen schwarzen Robe wie ein groteskes Insekt.
»Ich kenne Ihren Arbeitgeber«, begann Thomas das Gespräch. »Franco Guardi.«
Er ließ den anderen nicht aus den Augen. Er mußte etwa Mitte Dreißig sein, zehn Jahre älter als er selbst. Das ungesund fahle Gesicht des Franzosen war verbittert, tiefe Falten zogen sich von den Augen zu den Wangenknochen und von den Nasenflügeln zu den weinfeuchten Mundwinkeln. Fast hätte Thomas gesagt: »Ich habe seine Tochter hierhergebracht«, doch irgend etwas hielt ihn davon ab.
Ohne den Blick zu heben, murmelte der Notar: »Franco ist tot. Die Firma gehört jetzt Angelo.«
Angelo? Ach ja: Serafinas Halbkusin. Thomas trank einen Schluck. Jean de Coniques war mittlerweile sinnlos betrunken – kein Wunder, daß er wirres Zeug redete. Der Guardi-Tuchhandel konnte Angelo nicht gehören – die Firma existierte nicht mehr! Das hatte Serafina ihm am Dock in Marseille selbst erzählt!
Thomas spielte den Überraschten: »Franco ist tot? Er hatte eine Tochter, nicht wahr?«
Jetzt wurde der Notar doch aufmerksam. Graue Augen, deren Scharfsichtigkeit der Alkohol fortgespült hatte, richteten sich auf den Steuermann. »Das Mädchen ist auch tot«, sagte Jehan de Coniques undeutlich.
»Wie das?« fragte Thomas.
»Sie starb auf die gleiche Weise wie ihr Vater.«
»Bei einem Unfall?«
»So könnte man es
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