Serafinas später Sieg
einfältig. »Nur ein Seemann. Ein Steuermann.« Befremdet stellte er fest, daß seine Hand zitterte, als er den Weinbecher zum Mund führte.
»Sie war ein hochnäsiges kleines Miststück«, sagte der Franzose zusammenhanglos. Wieder kicherte er und richtete seinen verschwommenen Blick auf Thomas. »Hielt sich für was Besseres. Ich denke, ein paar Nächte mit den Korsaren haben ihr diesen Zahn gezogen.«
Thomas bemerkte die bösartige Freude, die in den Augen des Notars glomm, und wurde von einem würgenden Ekelgefühl erfaßt. Diesen widerlichen Kerl hatte Serafina zu ihrer »Familie« gerechnet! Er mußte hier raus, sonst riskierte er, die Beherrschung zu verlieren. Er stand auf und verabschiedete sich mit einem knappen Nicken. Seine Kameraden würden sich sicher wundern, wenn er nicht zu ihnen zurückkäme, doch das kümmerte ihn im Augenblick nicht. Er wollte allein sein.
Fröstelnd stand er einen Moment lang unschlüssig in der unwirtlichen Winternacht – dann wandte er sich nach rechts, steuerte mit langen Schritten auf die Docks zu und pumpte seine Lungen mit der kalten, feuchten Luft voll, bis sie brannten.
Zahlen, endlose Kolonnen von Zahlen, waren ein gutes Mittel gegen Kummer. Serafina, die zu später Stunde in Jacopo Caprianis Haus in Pisa am Schreibtisch saß, machte die letzte Eintragung und streute Sand auf das Papier. Als die Tinte getrocknet war und sie das Kontobuch geschlossen hatte, stand sie auf, um die Vorhänge zuzuziehen. Bevor sie es tat, blickte sie auf die Stadt hinaus – und sah ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Es war leicht verzerrt – ein Effekt, der durch die unregelmäßige Dicke des Glases hervorgerufen wurde –, doch sie konnte ihre dunklen Haare unter der schlichten Kopfbedeckung sehen und das schmucklose graue Kleid, das ihren kleinen, aber wohlgeformten Körper modellierte.
Sie war kein Sklavenmädchen mehr – und erst recht kein Junge. Nach der Sommerreise war ihr Gesicht goldbraun getönt, ihre Augen glichen immer noch unergründlichen dunklen Seen. Niemand sah sie mehr so an wie Angelo in jener Nacht auf den Stufen zu dem goldenen Haus. Das Schicksal hatte sie arg gebeutelt, sie hatte alles verloren – bis auf ihre Persönlichkeit. Sie würde niemanden nahe genug an sich heranlassen, um Gefahr zu laufen, diese auch noch einzubüßen.
Sie hatte Signor Capriani im Jahr zuvor auf dem Markt in Marseille kennengelernt und sich als Küchenmagd bei ihm verdingt – nach all den Jahren in Kara Alis Küche eine ebenso naheliegende wie einfache Lösung ihres Unterkunfts- und Geldproblems –, doch schon bald dafür gesorgt, daß der Kaufmann erfuhr, daß sie des Lesens, Schreibens und Rechnens mächtig war, und als einer seiner Buchhalter krank wurde, sprang sie für ihn ein. Sie entdeckte einen Fehler in der Buchführung, und nachdem sie ihren Arbeitgeber darauf hingewiesen hatte, wurde sie von der Küche ins Kontor versetzt. Auch ihre sprachlichen Fähigkeiten erwiesen sich als höchst vorteilhaft. Ihre Kenntnis des Lateinischen, Italienischen und Arabischen verschafften ihr eine Position, von der sie nicht einmal zu träumen gewagt hatte – jedenfalls nicht innerhalb eines so kurzen Zeitraumes. Offenbar hatte das Glück sie doch nicht ganz vergessen, auch wenn es Angelo unbestreitbar bevorzugte. Inzwischen hatte sie sich den Ablauf der Ereignisse einigermaßen zusammengereimt. Nachdem die Korsaren die Guardi-Schiffe aufgebracht hatten, war eine Lösegeldforderung bei Angelo eingegangen, und er hatte eine Chance gesehen, die Firma, die er bislang nur verwaltete, zu übernehmen, er mußte nur sicherstellen, daß Franco und seine Tochter niemals zurückkämen. Also hatte er das Geld zwar bezahlt – aber mit einem Mordauftrag verbunden. Auf Anfragen brauchte er später lediglich zu erklären, sein Arbeitgeber und Serafina seien Korsaren zum Opfer gefallen – oder einem Fieber.
Serafina ertappte sich dabei, daß sie ihn verstehen, sich in ihn hineinversetzen konnte. Auch sie würde jede günstige Gelegenheit ergreifen, die das Schicksal ihr böte – nur war es in ihrem Fall nicht ganz so großzügig.
Sie war erleichtert gewesen, im letzten Sommer Marseille verlassen zu können, froh darüber, endlich in das Land zu kommen, zu dem sie vor so vielen Jahren aufgebrochen war. Wenn sie an die Vergangenheit dachte, tat sie es ohne Bitterkeit. Es galt, sich mit ihrer Zukunft zu befassen. Die ihr zustehende Zukunft hatte Angelo ihr genommen, aber sie würde sich nicht
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