Seraphim
überwältigt zu werden, aber nichts geschah.
»Wenn er noch leben würde, und Ihr könntet ihn retten, indem Ihr sterbt, dann würdet Ihr es tun?«
»Ja.« Diesmal zögerte sie nicht. Sterners Miene war ausdruckslos, gerade so, als würde er gar nicht hören, was gesprochen wurde.
»Da habt Ihr die Antwort auf Eure Frage.« Gunther lehnte sich wieder an und entschwand dadurch Katharinas Blicken.
»Ihr sterbt für einen anderen Menschen?«, fragte sie.
Nun war es an ihm, zu überlegen, bevor er antwortete. »Für mehrere. Oder sagen wir lieber: für eine Idee.«
»Ich verstehe Euch trotzdem nicht.«
»Das müsst Ihr auch nicht.«
»Habt Ihr keine Angst vor dem Tod?«, wollte sie wissen.
»Die Kunst aller Künste und aller Wissenschaften Wissen – das ist recht zu sterben wissen« , rezitierte Gunther. Der Satz kam Katharina vertraut vor, und sie überlegte, ob sie ihn früher einmal von Egbert gehört hatte. Während sie noch grübelte, was sie sagen sollte, stellte Gunther nun seinerseits eine Frage an sie. »Und ihr? Habt Ihr Angst vor dem Tod?«
Diesmal dachte Katharina lange nach, bevor sie antwortete. Sie war sich dabei der Blicke Sterners in ihrem Rücken sehr bewusst und wandte den Kopf, um ihn ins Auge zu fassen.
»Ich glaube nicht«, antwortete sie.
Sein Kehlkopf ruckte auf und ab.
»Ihr glaubt?«, fragte Gunther.
Was sollte sie ihm sagen? Dass sie manchmal mehr Angst vor dem Leben hatte als vor dem Sterben? Dass es Tage in ihrem Leben gegeben hatte, an denen sie sehr dicht davor gewesen war, ins Wasser zu gehen? Sie scheute sich davor, dies in Sterners Gegenwart zuzugeben. »Ich habe noch nie genauer darüber nachgedacht.«
Wieder erschien Gunthers Gesicht hinter dem kleinen Loch. »Ihr lügt nicht besonders gut«, stellte er fest. »Eure Stimme zittert dabei.«
Der Wächter in seiner Zelle, den er Paul genannt hatte, schnaubte amüsiert, sagte aber nichts.
»Mag sein.« Katharina wollte etwas hinzufügen, aber in diesem Moment hörte es sich an, als würde Gunthers Zellentür geöffnet.
»Ich bekomme Besuch. Wartet einen Augenblick, ich bin gleich wieder bei Euch.«
Katharina konnte hören, wie er aufstand.
»Nun, mein Sohn, glaubst du nicht, dass es endlich an der Zeit ist, die Beichte abzulegen?« Eine Stimme, die Katharina vage vertraut vorkam. Kurz glaubte sie, es müsse der Priester mit den blauen Lippen aus St. Sebald sein, der ihr die Absolution verweigert hatte. Aber sie war sich nicht sicher.
Gunthers Stimme klang auf einmal sehr hart. »Ist es nicht.«
»Die Beichte wird dir die lange Nacht erleichtern«, sagte der Priester. Ihm war anzuhören, dass ihn Gunthers Ablehnung irritiert hatte. »Du solltest deinen Frieden mit Gott machen!«
»Das werde ich, Pater, aber auch wenn es Euch nicht gefällt: Dazu brauche ich weder Eure Hilfe, noch die eines anderen Pfaffen!«
Ein leises Ächzen aus der Kehle des Priesters verriet die Überraschung, mit der er die Beleidigung aufnahm. »Wünschst du also, dass ich wieder gehe?« Er klang herausfordernd, so, als glaube er keinen Augenblick lang daran, wirklich fortgeschickt zu werden.
Doch Gunther überraschte ihn. »Ja«, sagte er. Mehr nicht.
»Nun ... wenn du es so wünschst!« Eilige Schritte erklangen, dann fiel die Zellentür ins Schloss.
Katharina schüttelte den Kopf. »Seid Ihr sicher, dass das klug war?«
Schemenhaft sah sie Gunther an seinen Platz neben dem Mauerloch zurückkehren. »Warum nicht?«
»Ihr braucht ihn, um Euren Frieden mit Gott zu machen«, wiederholte sie die Worte des Priesters.
»Wann hat ein Priester das letzte Mal dafür gesorgt, dass Ihr Frieden mit Gott schließen konntet?«
Katharina dachte an ihre misslungene Beichte vom Vortag und an eine ganze Reihe von früheren ähnlichen Beispielen.
»Wie lange?«, bohrte Gunther nach.
»Es ist lange her«, gab sie zu.
»Stattdessen fühlt Ihr Euch gehetzt. Von irgendwelchen Teufeln, die nach Eurer Seele gieren, und in Angst versetzt vor dem großen Fegefeuer, in das Ihr nach Eurem Tod hinabgestoßen werdet. Stimmt es?«
Katharina lauschte in sich hinein. Das Fegefeuer hatte sie noch nie gefürchtet, was ihrer Meinung nach allein daran lag, dass ihr Leben diesem düsteren, grausamen Ort nur allzu oft aufs Haar glich. Aber Teufel und Dämonen? Ja. Die fürchtete sie.
Unwillkürlich griff sie sich an die Stirn, als könne sie ihren ganz persönlichen Dämon dahinter herumpoltern spüren. Die Worte ihres Vaters kamen ihr in den Sinn, unter Tränen
Weitere Kostenlose Bücher