Seraphim
anzusehen, mit der sie atmete. Als sei die Luft zäh und dick. Wie Wasser.
Schwarzes Wasser.
Es dauerte einen Augenblick, bis er bemerkte, dass Katharina ihm eine Hand auf den Oberarm gelegt hatte. Gegen den dunklen Stoff seines Gewandes hob sich ihre Haut schneeweiß ab. Richard starrte darauf und hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Ihr habt Schlimmes erlebt«, sagte Katharina leise. »Dinge, die Euch verfolgen, nicht wahr?«
Er sprang auf die Füße. Mit zwei hastigen Schritten war er auf der gegenüberliegenden Seite der Zelle und blieb dicht vor der Wand stehen, die Hände zu Fäusten geballt. »Ich bin nicht gekommen, um Euch mit meinen Dämonen zu belasten«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Aber das Bedürfnis, sich ihr anzuvertrauen, war inzwischen so groß, dass es ihm Übelkeit verursachte.
Katharina regte sich nicht. »Mir steht eine lange Nacht bevor«, erwiderte sie. »Und ich würde es vorziehen, mich mit fremden Problemen zu beschäftigen, statt mit den eigenen.«
Widerstrebend wandte Richard sich zu ihr um. Ihre Augen waren weit und hell, und es schien ihm, als blicke sie mit ihnen bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele.
»Ich hatte eine Schwester«, begann er zu erzählen. »Sie war vierJahre jünger als ich, und oft musste ich auf sie aufpassen, wenn meine Mutter keine Zeit hatte. Eines Tages waren wir unten am Weiher.« Er hielt inne, hoffte darauf, dass Katharina etwas sagen würde, aber sie tat es nicht. Also sprach er weiter. »Magdalena, das war der Name meiner Schwester, war ein lebhaftes Kind, immerzu musste ich irgendwelche Spiele mit ihr machen, auch wenn ich gar keine Lust dazu hatte. Ich hasste es, auf sie achten zu müssen. Sie war nur lästig. Wenn ich in der Sonne dösen wollte, wollte sie am Weiher spielen. Wenn ich auf einen Baum klettern wollte, drohte sie, es zu verraten.« Er begriff, dass er anfing, sich zu beklagen, und er unterbrach sich. Er würde Katharina nichts vorjammern!
Über die Entfernung, die sie trennte, schaute Katharina ihn einfach nur an. »Ihr wart zusammen an diesem Weiher. Was ist geschehen?«
Richards Erinnerungen an jenen Tag waren jetzt so klar und deutlich, als sei es gestern gewesen.
»Ich nahm sie an der Hand, und gemeinsam liefen wir zu dem Weiher. Ich erinnere mich noch, dass das Schilf mannshoch stand und dass Sumpfhühner und Enten zwischen den engstehenden Stängeln brüteten. Da war ein Sandstrand, wo wir oft lagen und träumten. Eines von Magdalenas Lieblingsspielen war es, herauszufinden, wer länger unter Wasser bleiben konnte.« Richard bemerkte, dass er sich wieder der Wand zugekehrt hatte. Katharina stand hinter ihm, er konnte den Duft ihrer Haare riechen. Er legte die Hände gegen die feuchten Mauern des Lochgefängnisses. »Sie liebte dieses Spiel«, murmelte er. »Sie liebte es, wie das Wasser ihre Ohren verschloss, so dass sich alles ganz dumpf und fremdartig anhörte. Und an diesem Tag ...« Die Stimme versagte ihm.
»Sie ist ertrunken«, half Katharina ihm.
Er stöhnte auf. Sie war ertrunken. Aber nicht, weil sie ihr Lieblingsspiel gespielt hatte. Sondern, weil er sie umgebracht hatte. Magdalenas helle Stimme hallte durch Zeit und Raum zu Richard herüber, füllte seinen gesamten Kopf mit ihrem Klang, und ihm kamen die Tränen. In rascher Folge flammten Bilder vor seinem inneren Auge auf, ohne dass er sich gegen sie wehren konnte. Wie er Magdalena ins seichte Wasser gefolgt war. Wie sie beide den Kopf untergetaucht hatten. Dasgurgelnde Geräusch, mit dem das Wasser auf seine Ohren gedrückt hatte. Und dann das Gefühl von Panik, als er sich aufrichten wollte und untergetaucht wurde. Das schlammige Wasser, das ihm bitter in Mund und Nase drang, und Magdalenas kleiner Körper, der ihm im Nacken hockte. Ihr Lachen, glockenhell und schadenfroh, als er keuchend und hustend durch die Wasseroberfläche gebrochen war. Und dann sein Zorn, mit dem er sich auf sie gestürzt hatte. Der Zorn, mit dem er seinerseits sie untertauchte. Einmal. Zweimal. Bis sie schrie und gurgelte und japste. Und dann ein letztes Mal. Das eine Mal, bei dem sie unter seinen Händen schlaff geworden war.
Die Mauern des Gefängnisses waren rau und kalt unter seinen Fingern und auch an seiner Stirn, die er gegen die Wand gelehnt hatte. Jetzt bog er den Kopf zurück und ließ ihn vorschnellen, ein einziges Mal nur, doch mit solcher Wucht, dass die Haut an seinem Haaransatz aufplatzte und ein scharfer Schmerz durch seinen gesamten Schädel
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