Seraphim
fuhr.
»Kommt.« Katharina fasste mit beiden Händen nach seinen Schultern, zog ihn von der Wand fort und führte ihn zu der Bank, wo sie ihn niederdrückte. Dann setzte sie sich neben ihn und nahm seine Linke zwischen ihre Hände. »Wie alt wart Ihr, als das geschah?«
Er schaute sie an.
»Ihr wart noch ein Kind, vermute ich.« Sie ließ seine Hand los, griff nach ihrem Rocksaum und drückte einen Zipfel davon gegen die Platzwunde in seinem Haar. Ein feiner Schmerz durchfuhr ihn.
Er atmete tief durch. »Zehn. Ich war zehn. Sie sechs.«
»Und Ihr macht Euch heute noch Vorwürfe, weil Ihr sie nicht retten konntet?« Sie fragte es ganz schlicht, ohne Vorwurf oder Mitleid.
Richard nickte langsam, dann schüttelte er den Kopf. Die Trugbilder wollten zurückkehren, aber diesmal gelang es ihm, sie zurückzudrängen. »Ich habe sie getötet.« Er wusste, dass sie ihm nicht glauben würde, dass sie versuchen würde, ihm seine Schuldgefühle auszureden. Er täuschte sich nicht.
»Ihr wart ein zehnjähriger Junge!«
Sie kannte nur die halbe Wahrheit. Er hatte nicht den Mut, ihr zu gestehen, dass er Magdalena unter Wasser gedrückt hatte, bis sieaufhörte zu atmen. Und er hatte auch nicht den Mut, ihr von Cesare Vasari zu erzählen. Nicht heute.
Vielleicht nie.
Richard fuhr sich durch die Haare und berührte dabei die Wunde. Sie riss wieder auf, und das Blut rann ihm mit einem leichten Kitzeln zwischen den Augenbrauen hindurch und den Nasenrücken hinunter. Er wischte es fort. »Verzeiht, dass ich Euch mit meinen Sorgen plage«, sagte er leise.
Er ließ sich von der Bank zu Boden rutschen, und Katharina tat es ihm gleich. Die Kälte der Steine drang ihm in die Knochen, aber er spürte sie kaum, denn nun zog Katharina ihn in ihre Arme und hielt ihn fest.
Tief atmete er den Geruch ihrer Haut ein.
Katharina war Sterner dankbar dafür, dass er sie abgelenkt hatte. Der gequälte Ausdruck in seinen Augen, als er ihr vom Tod seiner Schwester erzählt hatte, hatte sie tief getroffen, und sie hatte ohne zu überlegen dem Impuls nachgegeben, diesen Mann an sich zu ziehen und ihn zu trösten.
Die Muskeln seiner Arme und Schultern fühlten sich hart und unnachgiebig an, doch er entzog sich ihr nicht. Trotz der düsteren Situation, in der sie sich befand, rieselte ein warmer Schauer über ihren gesamten Körper.
»Wisst Ihr, dass ich Euch fast ein bisschen beneide«, wagte sie zu sagen.
Überrascht schaute er sie an. »Warum das?«
»Ihr wisst wenigstens, warum Ihr Euch schuldig fühlt.« Sie biss sich auf die Unterlippe, um sich selbst am Weiterreden zu hindern.
»Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Ihr mir sagen wollt.« Er rückte ein Stück von ihr ab, um sie besser ansehen zu können. Katharina spürte, dass sie das bedauerte.
»Nun ...« Sie winkte ab. »Es ist unwichtig!«
»Nein!«, protestierte er. »Ihr habt Euch meine Geschichte angehört, jetzt gestattet mir, auch Eure zu hören.«
Aber plötzlich konnte sie nicht weiter. Alles in ihr sträubte sich dagegen, ausgerechnet diesem Mann von ihrer Krankheit zu erzählen.Er wirkte überaus gebildet, und möglicherweise wusste er, welchen Grund die Ärzte für die melancholia angaben. Auf keinen Fall, dachte sie, wollte sie, dass Sterner schlecht von ihr dachte. So wie Egbert, den sie damals durch ihre Krankheit aus dem Haus getrieben hatte ...
Sie schluckte schwer. »Es ist nichts! Hört nicht auf das dumme Gerede einer Frau.«
»Ihr müsst große Angst haben!«
Sie sah ihn an. Sein Blick ruhte ernst und ruhig auf ihrem Gesicht, und auf einmal machte ihr Herz einen Satz. »Es ist ein wenig besser, seit Ihr bei mir seid. Es gibt mir Hoffnung. Hoffnung darauf, dass der Stadtrat einsehen wird, dass ich keine Hexe bin. Wenn Ihr es glauben könnt, können es vielleicht auch andere.«
Sterner lächelte schwach.
»Ihr fürchtet Euch nicht vor mir«, murmelte Katharina.
»Nein.«
»Ihr glaubt nicht, dass ich eine Hexe bin.«
»Ich glaube überhaupt nicht an Zauberei.«
»Dann bete ich, dass es im Stadtrat genug Männer wie Euch gibt und ich bald wieder frei bin.«
Sterner legte den Kopf schief, so dass seine gewellten Haare auf eine Seite rutschten. »Und was habt Ihr dann vor?«
»Zunächst möchte ich dafür sorgen, dass die Untersuchungen in Faros Fall wieder aufgenommen werden. Er hat meinen Bruder nicht umgebracht, da bin ich ganz sicher. Irgendetwas Schreckliches ist ihm geschehen, und ich möchte herausfinden, was. Aber bevor ich etwas tun kann, muss
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