Seraphim
– zumindest, wenn es um das Ende von ihrem Dienst geht.« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Aber da fällt mir ein: Wir haben heute Morgen zwei Neue bekommen, und ich musste sie in den beiden Keuchen ganz vorne unterbringen, weil wir die anderen gereinigt haben.«
Katharina blickte auf die Treppe, die aus der Stube in die Tiefe führte. Sie wusste, dass Sebald dort unten seine Küche hatte, und sie wusste auch, dass sich in dieser Küche ein zweiter Zugang zum Loch befand. Sie war noch niemals dort hinuntergegangen, aber Sebald hatte ihr erzählt, dass das Innere des Lochgefängnisses ein verwinkeltes Labyrinth bildete, das durch siebzig Türen in verschiedene Gänge und Abschnitte unterteilt war. Es gab genaue Vorschriften, welche dieser Türen Sebald zuzusperren hatte, wenn die einzelnen Abteilungen mit Gefangenen besetzt waren. Wenn er jemanden in den beiden vorderen Zellen sitzen hatte, musste er die Abschnitte davor sichern. Das bedeutete dann, dass Matthias undFaro zwar aus der Wasserleitung ins Gefängnis kommen konnten, da sie für die Verbindungstür zwischen beiden einen Schlüssel hatten, aber sobald sie im Loch waren, kamen sie nicht weiter – bis Sebald erschien, um sie zu befreien.
Jetzt stand er auf und ging die Treppe hinunter. Katharina konnte ihn mit seinem Schlüssel klimpern hören, dann war es einen Moment still. »Sieht nicht so aus, als seien sie schon da!«, sagte er mit hohl klingender Stimme. Schließlich klirrten seine Schlüssel ein zweites Mal, und er kehrte in die Stube zurück.
Katharina tauchte ihren Löffel in das zerkochte Fleisch und aß einen Bissen. Es war gänzlich ohne Salz zubereitet. Ihr Mund zog sich zusammen, als habe sie in einen sauren Apfel gebissen. »Ob ihnen etwas passiert ist?«, fragte sie.
»Was sollte passiert sein?« Sebald setzte sich wieder und griff nach seinem Löffel.
»Dein Bruder, ja, das ist ein braves Kind«, murmelte Sigrid vor sich hin. Ihr Kopf sank vornüber. »Gerade gestern hat er mich besucht, aber du, niemals verschwendest du einen Gedanken an deine Mutter ...« Das letzte Wort war nur noch ein Hauch, dann war die alte Frau eingeschlafen.
Stille erfüllte den Raum, legte sich auf Katharinas Ohren. Sie hörte das Blut in ihren Adern rauschen. Sebald nahm das Stück Brot, das auf seinem Tellerrand lag, und wischte mit ihm die letzten Reste seiner Mahlzeit zusammen.
Katharina vermied es, ihre Blicke allzu frei umherschweifen zu lassen. So sehr unterschied sich die Wohnung des Lochhüters von dem teuer eingerichteten Haus Peter Hogers, dass Katharina sich vorkam, wie in eine fremde Welt katapultiert. Eben noch schwere, blaue Samtvorhänge und dicke Teppiche auf dem Fußboden, jetzt ein Loch, feucht und kühl, mit nichts weiter ausgestattet als ein paar grob gezimmerten Möbeln. Eben noch Früchte auf dem Nachtkästchen, die man aus den Ländern südlich der Alpen herbeigeschafft hatte, jetzt ein fader Eintopf aus Möhren und fettigem Fleisch. Eben noch ihr falsches Spiel, die Maske der ehrbaren Bürgerin, die sie sich für Bettine aufgesetzt hatte, jetzt die herbe Wirklichkeit ihres eigenen Lebens.
Der Unterschied zwischen den beiden Leben, die sie führte und die sie sorgsam voneinander trennte, war so brutal, dass Katharina bitter auflachte.
Sebald sah sie an. Er hatte eine ruhige Miene, in der sich nicht viele Gefühle abzeichneten. Seine Augen lagen unter weit vorspringenden Brauen und konnten sich an dem Gesicht seines Gegenübers festsaugen, bis dieser vor Unbehagen auf seinem Sitz herumzurutschen begann. Kurz verspürte Katharina das Bedürfnis, ihm von Hogers Drohung zu erzählen, sie wegen Zauberei beim Rat anzuklagen. Doch dann fiel ihr Blick auf die Heiligenbilder, und sie biss sich auf die Zunge. Sebald neigte dazu, jedes Gerede über Zauberei in den Mauern der Stadt äußerst ernst zu nehmen. Also entschied sie sich lieber dafür, ihm diese Sache zu verschweigen – ebenso, wie sie ihm einiges andere verschwieg.
Sebald ahnte nichts davon, dass sie eben noch auf einem Samtkissen gesessen hatte. Er wusste nichts von Katharinas sorgsam gehüteter Existenz als Heilerin. Aber dafür wusste er, im Gegensatz zu den meisten anderen Nürnbergern, dass sie die Tochter der Mechthild Augspurger war.
Und kannte damit Katharinas zweites – ihr größeres Geheimnis.
»Was hast du?«, fragte er.
Sie griff sich an den Kragen ihres Kleides, die alte blasse Seide knisterte unter ihren Fingern. »Nichts. Ich musste nur
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