Seraphim
an etwas denken.«
Er fragte nicht nach. Er fragte niemals nach, wenn ihm etwas nicht klar war.
Im Grunde war er für die Arbeit, die er tat, in seiner Gutmütigkeit völlig ungeeignet. Als Lochwirt war er verantwortlich für die Kerkerzellen unter dem Rathaus. Er musste sich um die Gefangenen kümmern, ihnen ihr Essen bringen, die Schöffen zu ihnen lassen, wenn ein Verhör anstand. Und auch sonst lag der gesamte Ablauf hier im Lochgefängnis in seinen Händen. Er reparierte, was kaputt ging. Er säuberte die Zelle, wenn ein Gefangener in einen der Türme verlegt oder zur Hinrichtung auf den Rabenstein geführt wurde. Und er sorgte dafür, dass die Eingesperrten im Winter glühende Kohlen erhielten, damit sie nicht erfroren. Seit er hier war, das hatteKatharina einmal einen der Schöffen oben aus dem Rathaus sagen hören, waren die Zustände im Lochgefängnis sehr viel besser geworden als früher.
Sebald schob geräuschvoll seinen Schemel zurück. »Jetzt sind sie aber wirklich zu spät!«, bemerkte er. »Willst du mitkommen? Ich gehe einmal nachsehen, wo sie bleiben.«
Katharinas Blick fiel auf die Treppe.
Der Niedergang zum Kerker.
Sie war versucht abzulehnen; die Vorstellung, in die Tiefen des Lochgefängnisses hinunterzusteigen, war ihr unerträglich. Aber dann fiel ihr ein, dass Joachim Gunther dort unten wahrscheinlich noch immer auf Bettine wartete. Sie musste ihm wenigstens sagen, dass die Handwerkersfrau nicht kam.
Schweren Herzens nickte sie Sebald zu. »Gehen wir.«
Sebald beugte sich über seine Mutter, prüfte, ob sie es bequem hatte, und schob dann ihren Stuhl ein Stück dichter an den Tisch, damit sie nicht herauskippen konnte. Die Zärtlichkeit, mit der er über ihre faltige Wange strich, ließ in Katharina die Erinnerung an Sigrids Schimpftiraden aufkommen. Wie schwer es sein musste mit einer derart verwirrten Mutter.
Vielleicht sollte sie für die eigene dankbar sein?
Als Katharina vor der steil in die Tiefe führenden Treppe stand, zögerte sie.
Die Grenze zwischen Gefangenschaft und Freiheit , dachte sie und schauderte.
Sie folgte Sebald nach unten in einen winzigen Raum, der vollständig von einem riesigen, auf Füßen aus Feldsteinen stehenden Herd beherrscht wurde. Ein paar Holzscheite waren über ein Feuerbänkchen geschichtet und glommen vor sich hin. Die Luft war erfüllt von dem würzigen Geruch von Holzfeuer, jedoch erstaunlich wenig verraucht dafür, dass die Küche unterirdisch lag. Offenbar gab es irgendwo einen verborgenen Abzug, worauf auch ein sanfter, kühlender Luftzug hinwies.
Jenseits des Herdes befand sich eine schwere eisenbeschlagene Tür. Vor ihr blieb Sebald stehen, hakte den großen Schlüssel von seinemGürtel ab, steckte ihn in das massive Schloss und umfasste ihn mit beiden Händen. Die Riegel im Inneren des Schlosses drehten sich geschmeidig, und trotzdem klang das leise Klicken, mit dem die Bolzen an ihre Stelle rutschten, unangenehm in Katharinas Ohren. Sie stellte sich vor, wie es sein musste, dieses Geräusch zu hören und sich dabei auf der anderen Seite der Tür zu befinden. Die feinen Härchen an ihren Armen stellten sich auf, und noch einmal hörte sie die Stimme von Peter Hoger.
Hexe!
Sie biss die Zähne zusammen. Ruhig bleiben! , befahl sie sich.
Auch die Angeln hatte Sebald sorgfältig geölt, so dass die Tür lautlos aufschwang und dann mit einem leisen Geräusch gegen die Wand prallte.
»Nun steigen wir hinab zur blinden Tiefe« , murmelte Sebald eine Zeile aus irgendeinem alten Text, den Katharina nicht kannte. »Ich geh zuerst, du wirst als zweiter folgen.«
»Hör auf damit!«, ermahnte sie ihn, aber er grinste nur schief.
Sie kamen in einen etwas größeren Raum, in dessen Ecke ein Brunnenschacht angelegt worden war. Von hier führte ein schmaler Gang rechterhand ab. Er wurde, wie die Brunnenstube auch, von einer Reihe Talglichter dürftig erhellt und verlor sich in der klammen Tiefe, deren Schatten mit Blicken nicht zu durchdringen waren. Die Düsternis hier unten wirkte gleichzeitig kalt und lebendig, als vibriere sie von der Hoffnungslosigkeit der Gefangenen.
Katharina zog ihren Kleiderkragen enger um den Hals.
Sebald wies in den Gang, betrat ihn jedoch nicht. »Gleich dahinten sitzt einer von den Neuen. Sein Name ist ...«
Katharina wollte es nicht hören. »Zeig mir, wo Joachim Gunther sitzt«, unterbrach sie ihn.
Sebald runzelte die Stirn, und seine zerstörte Nase wirkte im Licht der Talgfunzeln wie ein Loch in seinem
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