Seraphim
übermächtig.
Sie spürte, wie ihr Gesicht sich veränderte, wie sich Linien um Mund und Augen eingruben, die sie älter wirken ließen. So wie die Umgebung für sie grau wurde, wurde auch sie selbst grau. Menschen um sie herum, Menschen, die sie gut kannten, konnten es sehen.
Matthias war stets der erste, der es bemerkte. Obwohl sie nur Halbgeschwister waren – Matthias stammte aus der ersten Ehe von Katharinas Vater –, verband sie eine ungewöhnlich tiefe Zuneigung.
Früher, als sie beide noch Kinder gewesen waren, hatte er sie manchmal gefragt, was in diesen Momenten in ihr vorging, wenn die melancholia kam. Zunächst war es ihr schwergefallen, eine Antwort darauf zu finden. Doch dann, eines Tages, hatten sie gemeinsam in einem leerstehenden Haus am Rande der Stadtmauer gespielt. Sie waren über die verstaubten Möbel getobt und hatten versucht, sich in einem blinden Spiegel gegenseitig Fratzen zu schneiden. In diesem Augenblick war Katharina klar geworden, wie sie Matthias ihre Gemütslage deutlich machen konnte.
»Siehst du dieses Zimmer?«, hatte sie gefragt.
Er nickte, hatte mitten im Spiel innegehalten, weil er zu spüren schien, dass sie etwas Ernstes besprechen wollte.
»Man kann das Leben noch ahnen«, erklärte Katharina. »Aber unter all dem Staub und dem vielen Schmutz fühlt man es nicht mehr.«
Matthias zog die Nase kraus, wie immer, wenn er ihr mit seinen Gedanken nicht ganz folgen konnte.
Katharina wischte ein Spinnengewebe von einer Anrichte. Wie ein grauer Schleier klebte es an ihrer Hand und bewegte sich leicht im Luftzug. Sie hielt es Matthias hin. »Alles ist mit Spinnweben überzogen. Hier in diesem Zimmer.« Sie hatte das Gespinst abgeschüttelt und zugesehen, wie es zu Boden segelte. Dann hatte sie sich an die Schläfen gegriffen. »Und hier in meinem Kopf.«
Erst viel später, als sie der Kunst der Medizin begegnet war, hatte sie erfahren, dass es eigentlich nicht ihr Kopf sein konnte, in dem sie die Spinnweben spürte, weil nach der gängigen Lehrmeinung ihre Gedanken und Gefühle in ihrem Herzen saßen. Eine Weile hatte sie versucht, das, was sie empfand, mit dem, was man sie gelehrt hatte, in Einklang zu bringen, aber als die Spinnweben immer dichter geworden waren und das Grau ihrer Umgebung immer düsterer, da hatte sie für sich selbst entschieden, ihren eigenen Sinnen zu trauen. Schließlich hatte sie sich selbst davon überzeugt, dass die melancholia im Kopf saß, nicht im Herzen.
Eine zweite Fliege kam angeflogen und setzte sich neben die erste auf den Schnabel des toten Schwans. Katharina löste den Blick von den winzigen Tieren und straffte die Schultern. Dieser Tag war kurz davor, sich zu wandeln und zu einem schlechten Tag zu werden. Das Beste, was sie dagegen tun konnte, war, zu ihrem Bruder zu gehen und sich von seiner fröhlichen Gegenwart aufmuntern zu lassen. Wenn sie nicht bald Matthias’ Lachen hörte, würde sie in Kürze völlig in graue, spinnwebenverklebte Starre versinken.
Sie nahm eine Handvoll halb verrottetes Laub und breitete es über den toten Schwan. Ein intensiver Geruch von Erde und Fäulnis stieg in die Luft.
Manch Schrecken ließ sich verbergen, aber trotzdem war er immer noch da. Unter der Oberfläche.Katharina verließ die Insel Schüdt auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen war, und wandte sich dann Richtung Norden. Es ging inzwischen auf die Mittagsstunde zu, und das war der Moment, in dem Matthias’ Dienst enden würde.
Einer der Felsengänge, die die Röhrenmeister zu begehen und zu kontrollieren hatten, endete in den Gewölben des Nürnberger Lochgefängnisses, das sich in den Gewölben unter dem Rathaus befand. Katharina wusste, dass Matthias und sein Freund Faro es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, ihren täglichen Rundgang bei Sebald Groß zu beenden. Er war der Lochwirt, und als solcher hatte er seine Wohnung direkt neben dem Kerker. »Einkehren beim Wirt zum Grünen Frosch« nannte Matthias das, und Katharina schalt ihn oft deswegen. Denn dieser Ausdruck war die spöttische Bezeichnung der Nürnberger dafür, ins Lochgefängnis gesteckt zu werden. Aber so war Matthias – ein wahrer Bruder Leichtfuß, der sich wenig darum scherte, ob es passend war, was er sagte, und noch weniger darum, was andere von ihm dachten. Bei diesem Gedanken wurde Katharina warm ums Herz.
Das Rathaus lag der Sebalduskirche gegenüber, ganz in der Nähe des Hauptmarktes mit seinem prachtvollen goldverzierten Brunnen. Allein durch seine Bauweise
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