Seraphim
Gesicht.
»Bettine Hoger wollte heute herkommen, aber sie ist krank«, kam Katharina einer Frage zuvor. »Ich muss ihm wenigstens Bescheid sagen.«
Sebald überlegte. »Besser, ich mache das.«
Dankbar sah Katharina ihm zu, wie er eines der Lichter aus derBrunnenstube an sich nahm, in dem Gang verschwand und kurze Zeit darauf wiederkehrte. »Erledigt«, verkündete er. »Der arme Teufel, er war ganz schön niedergeschlagen.«
»Wann ist sein Rechtstag?«, fragte Katharina.
»In drei Tagen.«
»Sieh zu, dass eine der anderen Frauen vorher noch einmal kommt, ja?«
Sebald nickte. Er stand jetzt so, dass das Licht seiner Funzel auf eine zweite Tür fiel, die aus der Brunnenstube führte. Ebenso wie jene zur Küche war diese hier eisenbeschlagen.
Und sie stand eine Handbreit offen.
Sebald fluchte und griff nach dem Schlüsselbund. »Das gibt Ärger«, murmelte er und tastete nach dem Riegel, um die Tür zuzuziehen.
»Warum?«
Katharinas Frage ließ Sebald innehalten. »Das hier ist die Tür zur Lochwasserleitung«, erklärte er. »Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie immer verschlossen ist, denn durch diesen Gang«, er stieß die Tür weiter auf, so dass Katharina einen steilen Gang erkennen konnte, der sich in die Finsternis erstreckte, »ist es möglich, aus dem Loch zu entkommen.«
»Diese Tür ist immer zu?« Katharina wusste nicht warum, aber plötzlich stellten sich ihr die feinen Haare im Nacken auf.
Sebald nickte und griff erneut nach dem Riegel. »Immer! Mein Vorgänger hat sie ab und an aufgelassen, wenn es so schwül war wie heute. Aber ich halte mich an meine Anweisungen. Die Tür muss zu sein!«
Ohne nachzudenken, was sie tat, legte Katharina die Hand gegen das Holz der Tür und hinderte Sebald daran, sie zu schließen. »Warte!«
Sebald nestelte an seinem Schlüsselbund herum. Es klirrte leise. »Ich muss dem Rat auf jeden Fall Bericht erstatten«, sagte er zu sich selbst.
»Sebald!« Katharinas Stimme klang schrill.
Sebald sah erstaunt von seinem Schlüsselbund auf.
»Matthias ist noch nicht von seinem Dienst zurück!« Sie konnte nur noch krächzen. Plötzlich war sie ganz sicher, dass etwas passiert war.
Sebalds Augen weiteten sich. »Meinst du, er ...«
»Vielleicht ist er Eindringlingen über den Weg gelaufen«, rief Katharina aus. »Vielleicht liegt er in einem dieser Gänge und braucht unsere Hilfe!«
Sebald schüttelte heftig mit dem Kopf. »Faro ist bei ihm. Die beiden sind ... Katharina, wir dürfen da nicht hinein!«
Aber Katharina hörte schon nicht mehr auf ihn. Sie hatte die Tür weit aufgestoßen, nach einer der Talgfunzeln gegriffen und lief nun den schmalen Gang entlang, der in steilem Winkel direkt zur Lochwasserleitung hinunterführte.
»Katharina!« Sebalds Ruf hallte hinter ihr her, überholte sie, brach sich an den engen feuchten Wänden.
»Hilf mir!«, rief sie zurück.
Es dauerte einen Augenblick, dann zeigten hastige Schritte an, dass Sebald ihr tatsächlich folgte. Das Klirren seiner Schlüssel und seine leise gemurmelten Verwünschungen wurden deutlicher, je näher er kam.
Dann war er direkt hinter ihr.
Katharina umrundete eine Biegung. Und schrie auf.
Zu ihren Füßen, so nahe, dass die Spitzen seiner weißen Flügel ihre Schuhe berührten, lag ein toter Engel.
Das Licht ihrer Talgfunzel zuckte über ausgestreckte Beine, über Stiefel, die ihr irgendwie vertraut vorkamen, dann über den entblößten Oberkörper und diese großen schneeweißen Flügel, die aus dem Rücken des Toten ragten. Ein Stöhnen drang aus ihrer Kehle, als sie die feinen Blutspritzer bemerkte, die die Federn dort benetzten, wo sie aus der menschlichen Haut wuchsen. Eine einzelne abgeknickte Schwungfeder fiel ihr auf. Wie ein mahnender Zeigefinger ragte sie aus der glatten, glänzenden Fläche der anderen hervor.
Der Tote lag auf dem Bauch, einen Arm unter dem Körper verborgen, den anderen über dem Kopf weit von sich gestreckt, als versuche er noch im Tod nach Rettung zu greifen.
»Katharina ...« Die Stimme Sebalds gellte in Katharinas Ohren, als sie sich jetzt langsam auf die Fersen sinken ließ. Tief in ihremKopf, im letzten Winkel ihres Geistes, ahnte sie bereits, was sie sehen würde, wenn sie den Toten umdrehte.
»Fass ihn nicht an!«, ächzte Sebald. »Gott wird dich strafen, wenn du ihn anfasst!«
»Es ist kein Engel«, hörte Katharina sich selbst sagen. Ihre Stimme klang fremd, so unendlich fremd. Ihre Augen fingen an zu brennen, doch es kamen keine
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