Seraphim
wirkte, als habe jemand die Hälfte davon abgebissen: Einer der Flügel war fort und das Nasenloch ein dunkler Krater in seinem Gesicht. Darüber hinaus, das wusste Katharina, fehlten Sebald die rechte Ohrmuschel zur Hälfte und die linke gänzlich. Das verbarg er jedoch recht geschickt unter einer Flut von ausgesprochen schönen blonden Haaren.
Katharina knöpfte ihre Schaube auf, nahm sie ab und legte sie über einen Stuhl. »Ich wollte euch nicht beim Essen stören«, sagte sie. »Ich dachte nur, Matthias wollte nach seiner Arbeit hierher kommen. Ich bin auf der Suche nach ihm.«
Sebald legte seinen Löffel zur Seite und stand auf. Er war ein gutes Stück größer als Katharina und fast doppelt so alt wie sie. »Er ist noch nicht hier. Willst du auf ihn warten?«
»Ja.« Katharina wandte sich um, denn Sigrid betrat nun den Raum. Sie humpelte stark. »Plagt dich wieder die Gicht?«, fragteKatharina sie, doch die alte Frau starrte ihr nur verständnislos ins Gesicht. Sie tastete nach einem Amulett, das ihr an einer silbernen Kette um den Hals hing, und klopfte dagegen. Es zeigte den heiligen Lorenz, einen der Schutzpatrone der Stadt Nürnberg.
Ohne auf Katharinas Frage zu antworten, ließ Sigrid sich auf ihren Stuhl fallen und setzte ihre Mahlzeit fort. Mehrere Löffel nacheinander schaufelte sie sich in den Mund, dann sah sie auf, musterte Katharina und begann zu strahlen. »Katharina! Du willst zu Sebald, nicht wahr?« Sie schickte sich an, wieder aufzustehen.
Katharina legte ihr eine Hand auf die magere Schulter. »Ja, Sigrid. Aber ich habe deinen Sohn schon gefunden. Bleib ruhig sitzen!« Sie schaute zu Sebald, der das alles mit ausdrucksloser Miene beobachtete. Sigrid war seit vielen Jahren verwirrt, im Grunde schon so lange, wie Katharina denken konnte. Er war Schlimmeres gewöhnt, als dass sie vergaß, wen sie soeben in die Wohnung gelassen hatte.
»Katharina möchte ihren Bruder hier abholen, Mutter«, erklärte er ihr in langsamem und geduldigem Tonfall. »Matthias, den Röhrenmeister, du kennst ihn doch. Er kommt uns oft besuchen.«
Sigrids Blick blieb noch einen Moment auf Katharinas Zügen haften und wanderte dann langsam zu ihrem Sohn hinüber. Sie schürzte die Lippen. »Bruder?«, murmelte sie. Dann ging ein Ruck durch ihren Körper. »Du nutzloser Kerl!«, giftete sie Sebald unvermittelt an. »Was grinst du mich so aufsässig an, du Halunke? Schau dir deinen Bruder an, der ist ein braves Kind!« Und so brabbelte sie weiter und weiter auf Sebald ein, als habe der Herrgott die Zeit zurückgedreht und sie sei wieder eine junge Mutter mit einem respektlosen Sohn.
Sebald zuckte nur die Achseln und leckte sich über die Lippen, die wie immer ein wenig trocken und schuppig waren. Mit versteinertem Gesicht trat er an die oberste Stufe einer steilen Treppe, die aus der Stube in die Tiefe führte. Es war nicht das erste Mal, dass Katharina einen solchen Ausbruch miterlebte, und es tat ihr in der Seele weh, Sigrids wirre Beschimpfungen mit anhören zu müssen.
Sebald hatte ihr erzählt, dass er niemals einen Bruder gehabt hatte.
»Ich hole dir auch etwas«, murmelte er und blickte in Richtung seines eigenen Essens. Dann verschwand er für einige Augenblicke in der Tiefe und kehrte gleich darauf mit einem gefüllten Teller wieder.Katharina warf einen Blick auf die Mischung aus Rüben und Fleisch und dankte Sebald, obwohl sie eigentlich keinen Hunger hatte. Die Haut rings um seine fehlenden Fingerglieder war dunkel und glatt. Das Talglicht beleuchtete ihn jetzt von schräg unten, betonte den Krater seiner fehlenden Nase um so mehr.
Sebald setzte sich hin und aß seelenruhig weiter. Katharina versuchte, es ihm gleichzutun, aber es gelang ihr nicht. In der düsteren, von Alter und Krankheit erfüllten Wohnung fiel ihr plötzlich das Atmen schwer. Sie fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war hierherzukommen, aber dann drang ihr etwas klar und scharf ins Bewusstsein.
Es ist der Platz, wo du hingehörst, seit Egbert tot ist und deine Mutter sich entschlossen hat, die Frau eines ...
Mit einer energischen Handbewegung wischte sie den unerwünschten Gedanken fort.
Sebald sah die hastige Bewegung, sagte jedoch nichts dazu. »Seltsam, dass Matthias und Faro noch nicht da sind«, meinte er nach einer Weile. Er hatte eine leise, helle Stimme, die stets klang, als sei er aufgeregt, und die noch höher wurde, sobald seine Mutter begann, auf ihn einzuschimpfen. »Sie sind sonst die Pünktlichkeit in Person
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