Seraphim
Kälte in seine Haut eindringen. Ein Wassertropfen löste sich von einem Vorsprung über seinem Handgelenk, traf auf seinen Zeigefinger und rann daran herunter, bis er fast den Ärmel erreicht hatte. Er schüttelte ihn fort. Sein Hinterkopf juckte jetzt stärker. Ob er sich im Gedränge der Gaststube gestern Abend einen Floh geholt hatte?
Der Gang war schmal, aber hoch genug, um aufrecht darin zu gehen. Gewachsenes Felsgestein begrenzte ihn nach rechts und links,und an etlichen Stellen konnte man noch die Spuren der Werkzeuge erkennen, mit denen Männer vor vielen Jahren die Stollen gegraben hatten. Ab und an zweigte ein schmalerer Gang nach rechts oder links ab und verlor sich in der Finsternis. Steinplatten bildeten den Boden, und ein leises Glucksen verriet, dass unter ihnen Wasser floss.
Matthias lächelte. Dies war sein Reich: die Wasserleitungen Nürnbergs. In die Felsen unter den Straßen waren sie gebaut und versorgten die Brunnen der Sebaldus-Stadt mit frischem Quellwasser, das teilweise in hölzernen Rohren, teilweise aber auch in den offenen Rinnen der Felsengänge zu den Menschen geleitet wurde.
Im Licht einer Laterne, die er mit einem eigens dafür vorgesehenen Ledergeschirr an seiner Schulter befestigt hatte, ließ Matthias seinen Blick den langen, sanft abfallenden Gang entlangschweifen. Der Felsen der Wände ging hier in einen gemauerten Tunnel über, und ein Stück weiter hatte man die Wände roh verputzt. Das Muster, das die Oberfläche bildete, erinnerte an die Schuppen irgendeines riesigen, unter dem Burgberg schlafenden Tieres. Manchmal, wenn Matthias die Augen zusammenkniff, fiel es ihm leicht, sich vorzustellen, wie die Wände und Decken rings herum sich in langsamem Rhythmus hoben und senkten.
Er kicherte leise. Das Geräusch seiner Stimme verlor sich vor ihm, aber anders als vorhin wurde seine Stimme plötzlich um ein Vielfaches verstärkt zu ihm zurückgeworfen.
Matthias zuckte zusammen, und seine Faust krampfte sich um den Griff des kurzen Schwertes, das er an seiner Seite trug.
Das Echo ebbte ab, wurde abgelöst von unheimlichem Gelächter, hohl und schrill und beängstigend.
Matthias spürte, wie an seinem Hals ein Muskel zu beben begann. Dann hörte er ein anderes Geräusch. Ein Steinchen, das einige Handbreit den Gang hinunterkullerte. Vor Erleichterung sackten Matthias’ Schultern nach vorne. »Faro, du Schwachkopf!«, rief er. »Glaubst du allen Ernstes, dass ich auf deine uralten Späße reinfalle?«
»Uralte Späße?« Die Stimme, die ihm nun antwortete, war langgezogen, klang fast wie ein Heulen. »Warte, du Ungläubiger!« Und im selben Moment sprang eine Gestalt aus einem der schmalen Seitengängehervor. Bevor Matthias reagieren konnte, war sie bei ihm und riss ihn beinahe von den Füßen.
Matthias taumelte einen Schritt rückwärts. Er drehte die Hüfte ein und wehrte auf diese Weise den Aufprall ab. Seine Faust schoss vor, traf Leder und klirrende Kettenglieder eines an der Brust gepanzerten Hemdes.
»Aber für einen Augenblick hast du geglaubt, ich sei der Röhrenteufel, gib es zu!« Lachend hob der Angreifer beide Arme.
Matthias schüttelte den Kopf. »Nein. Ich dachte eher, dass dir die Arbeit hier unten endgültig den Verstand geraubt hat.«
Faro ließ die Hände sinken, dann reichte er Matthias die Rechte. »Kann ja nicht jeder die Felsengänge so sehr lieben wie du. Mir jedenfalls ist es hier unten zu dunkel, zu kalt und auch zu feucht.«
Matthias schüttelte seinem Freund und Gefährten die Hand. »Langsam kann ich dein Gemaule nicht mehr hören, mein Lieber!«
Faro zog den Kopf ein, als ein Wassertropfen direkt auf seine Stirn fiel. »Manchmal verursachen die Gänge mir einfach ein ungutes Gefühl.«
»Musst die Arbeit ja nicht machen.«
Faro schnaubte. »Klar! Damit Verräter wie dieser Joachim Gunther noch leichteres Spiel haben, oder was?«
Joachim Gunther war einer der Gefangenen, die im Kerker unter dem Rathaus, dem sogenannten Loch, saßen und auf ihren Rechtstag warteten. Man warf ihm vor, für Friedrich, den Markgrafen von Brandenburg-Ansbach, den Eingang zu einem der unterirdischen Felsengänge ausspioniert zu haben. Da diese alten Felsengänge zum Teil außerhalb der Stadtmauern begannen, boten sie für Feinde ideale Möglichkeiten, heimlich bis in das Herz der Stadt vorzudringen. Friedrich, der für seinen ausschweifenden Lebensstil bekannt war, hatte offenbar geplant, die Nürnberger Burg unter seine Kontrolle zu bringen – und damit jenen
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