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Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Johannes fort. »Einer von ihnen war ein studierter Mann.«
    Richard unterdrückte ein Ächzen. Medizinisch gebildete Inquisitoren in der Stadt! Bevor er diesem Umstand weitere Gedanken widmen konnte, fiel sein Blick auf Katharina.
    Sie war an die Bahre mit dem weißen Tuch getreten und blickte darauf nieder. Die Arme hatte sie fest um den Leib geschlungen, und sie sah aus, als sei ihr kalt. Ihr Oberkörper schwankte. Richard verdrängte für einen Moment seine eigenen Probleme und trat neben sie. In diesem Moment fasste sie nach dem Tuch und zog es mit einer einzigen schwungvollen Bewegung vollständig zu Boden.
    »Mein Gott!« Richard riss die Augen auf.
    Katharina sank vor der Bahre auf die Knie, das Tuch, das sie noch in den verkrampften Fäusten hielt, hob sie zum Mund und bedeckte ihn damit.
    Richard jedoch konnte den Blick nicht von dem Toten wenden. »Flügel!«, flüsterte er.
    Katharina schloss die Augen.
    Der Tote war ein junger Mann von kräftiger Statur, dessen Gesichtszüge im Tod jeglichen Charakter verloren hatten. Wie eine wächserne Maske sahen sie aus – eine wächserne Maske mit kantigem Kinn und einer schmalen Nase. Ein dunkler Blutfleck prangte auf der Brust des Toten, und unter seinem Leib ragten zwei große weiße Schwingen hervor. Im ersten Moment sah es so aus, als habe jemand sie unter dem Leichnam drapiert, um ihm eine besondere Liegefläche zu bieten. Dann jedoch erkannte Richard, dass das Gewand des Toten in Höhe der Schultern zerrissen und blutig war. Die Erkenntnis, dass dem Toten die Flügel aus der Haut ragten, traf ihn wie eine Keule.
    Plötzlich wusste er, woher die Gerüchte in der Stadt kamen.
    Bruder Johannes’ Stimme war ausdruckslos, als er sagte: »Jemand hat ihm den Rücken aufgeschnitten und die Flügel in die Wunden gesteckt.«
    Eine unerwartet heftige Scheu ergriff Richard, und ganz kurz hatte er das Gefühl, der Teufel persönlich befinde sich mit ihnen gemeinsam hier in der Kapelle. »Wer tut so etwas?«, krächzte er.
    Niemand antwortete ihm.
    In der eintretenden Stille konnte er sein eigenes Herz pochen hören.
    Es war Katharina, die zuerst wieder sprach. »Schwanenflügel.« Sie bewegte kaum den Mund. So bleich war sie, dass Richard feine blaueÄderchen in ihren Lippen erkennen konnte. »Ich habe den Kadaver eines Schwans am Flussufer gefunden.«
    »Jemand hat erst den Vogel getötet, dann den Röhrenmeister«, erklang plötzlich eine weitere Stimme hinter Richards Rücken. Hartmann Schedel, der Stadtphysicus, betrat die kleine Kapelle und ließ seinen Blick über die versammelten Menschen schweifen. Schlagartig kam Richard sich verletzlich vor. Schedel musterte ihn für einen langen Moment, nickte ihm dann knapp zu, eine Geste, die so kühl wirkte, dass sie schon fast eine Beleidigung war. Dann wechselte der Physicus mit Johannes einen langen, beredten Blick, dessen Bedeutung Richard völlig schleierhaft blieb.
    »Er hat einen Berechtigungsschein«, flüsterte Bruder Johannes. »Ich konnte ...«
    Schedel winkte ab.
    Er betrachtete den beflügelten Toten eine ganze Weile lang schweigend, und seine Miene strahlte dabei so intensive Konzentration aus, dass Richard unwillkürlich flacher atmete, um ihn nicht zu stören. Katharina, die noch immer mit dem Tuch in den Händen vor der Bahre kniete, machte Anstalten, sich zu erheben, aber auch sie schien die Versenkung Hartmann Schedels wahrzunehmen. Als ihre Bewegung ihren Rock rascheln ließ, erstarrte sie und rührte sich nicht mehr.
    »Das ist er also«, murmelte der Physicus. Er streckte eine Hand aus und fuhr mit dem Zeigefinger zwischen die weißen Schwungfedern. Sie knisterten leise. »Schwanenflügel.« Wieder sah er Bruder Johannes an. Wieder geschah etwas zwischen ihnen, das Richard verborgen blieb.
    Endlich gab Schedel sich einen Ruck. »Mein Bruder hier bat mich, einen Blick auf den Toten zu werfen«, erklärte er Richard. »Um meine fachliche Meinung einzuholen. Darf ich fragen, was Ihr hier wollt?«
    Jetzt erhob sich Katharina. Das Leichentuch ließ sie einfach auf dem Boden liegen.
    Richard wollte Schedel mit einer Gegenfrage antworten, doch Katharina kam ihm zuvor.
    »Ich habe ihn hierhergebracht«, erklärte sie.
    Schedel warf Richard einen skeptischen Blick zu, dann wandte ersich wieder dem Toten zu. Sein Mund war vor Missbilligung hart und schmal geworden. Richard wurde klar, dass er ihn und Katharina am liebsten losgeworden wäre, dass er jedoch keine Möglichkeit sah, dies zu

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