Seraphim
fragte der.
Der Mesner nickte. »Sie wird morgen bei Sonnenaufgang gelesen werden, wie jedes Jahr am 10. August.« Missbilligend krauste er die Nase, und Johannes wusste, warum er das tat. Carl Scheurich war ehemals Kaplan in St. Sebald gewesen und hatte bei seinem Tod vor inzwischen vierzig Jahren verfügt, dass einmal im Jahr, zur Stunde seines Ablebens, vor dem Johannesaltar eine Messe für ihn gelesen werden sollte. Das war an sich nichts Ungewöhnliches, doch Scheurich hatte seinem Testament eine kleine Besonderheit beigefügt: Er hatte bestimmt, dass diese Messe von niemand anderem als seinem Bruder Aurelius gelesen werden durfte. Das hatte in den ersten zehn Jahren auch keine Schwierigkeiten bereitet, denn Aurelius Scheurich war selbst Mitglied des Pfarrklerus gewesen, bis er während einer Reise nach Rom plötzlich dem Orden der Dominikaner beigetreten war. Seitdem lebte er in einem Kloster in Würzburg und kam einmal im Jahr nach Nürnberg, um dem letzten Willen seines Bruders Folge zu leisten. Er wohnte im Predigerkloster an der Burgstraße, wenn er in der Stadt weilte.
Nun standen die Dinge zwischen dem Pfarrklerus und dem Predigerkloster allerdings nicht zum Besten, und es gab immer wiederBestrebungen von Seiten St. Sebalds, Pater Aurelius die Messe zu verweigern. Bisher war jeder dieser Versuche daran gescheitert, dass Scheurich seine Stiftung mit einem gehörigen Batzen Geld ausgestattet hatte, auf die der Klerus nur ungern verzichten wollte.
»Ich bin auf der Suche nach Pater Aurelius«, sagte Johannes etwas atemlos, weil er sich unter dem strengen Blick des Mesners unwohl zu fühlen begann.
Der nahm die alten Kerzen aus ihren Ständern auf dem Altar. »Ist er nicht im Kloster?«
»Wäre ich dann hier?« Johannes versuchte, gelassen zu klingen, doch in seinen eigenen Ohren hörte er sich nur unsicher und fahrig an. Der Mesner jedoch schien nicht so genau auf den Klang der Worte zu achten.
Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich nicht. Schaut am besten in der Nordsakristei nach. Dort war er jedenfalls vorhin noch.«
Dankend nickte Johannes dem Mann zu und ging zwischen Johannes- und Marienaltar hindurch in den Ostchor. Hier befand sich eine mit gehämmerten Messingplatten verzierte Tür, die ein wenig offenstand. Johannes überwand die drei Stufen, die zu ihr hinaufführten und steckte vorsichtig seinen Kopf durch den Spalt.
Vor dem kleinen Steinaltar in der Sakristei kniete ein rundlicher Mann im weiß-schwarzen Habit der Dominikaner. Seine Tonsur war schlecht rasiert und das Haar in seinem Nacken ein Stück zu lang. Als er spürte, dass jemand hinter ihm stand, beendete er sein Gebet, bekreuzigte sich und stand auf. Ein ebenholzschwarzer Rosenkranz an seinem Gürtel klimperte leise.
»Bruder Infirmarius!« Aurelius hatte ein feistes Gesicht, und von seinen Lidern standen die blonden Wimpern wie kurze Schweineborsten in die Luft. Seine Stimme klang hoch und näselnd. »Seid Ihr etwa auf der Suche nach mir? Ihr seht angegriffen aus. Wie kann ich Euch helfen?« Er wies auf eine Bank an der Rückseite der Sakristei. Hier lag ein Stapel Altartücher, den er achtlos zur Seite schob, so dass sie sich setzen konnten.
Sorgsam schloss Johannes die Tür, bevor er sich neben Aurelius niederließ. »Ich bin von Anfechtungen des Teufels umgeben, Pater«, keuchte er. »Würdet Ihr mir die Beichte abnehmen?«
»Warum wendet Ihr Euch nicht an Euren Prior? Soweit ich weiß, ist er Euer Beichtvater, nicht wahr?«
Darauf wusste Johannes keine ehrliche Antwort zu geben, also schwieg er gequält.
Pater Aurelius musterte ihn einen Moment lang. »Verstehe«, meinte er. Dann wies er auf die Bank vor dem Altar. »Kniet nieder.«
* * *
Als Richard zu ihm vorgelassen wurde, kniete Enzo Pömer vor einem seiner mechanischen Spielzeuge, dem Hahn, von dem Thomas Richard bereits erzählt hatte. Das Kontor war ein enger Raum, klein und niedrig, wie alle in diesem Haus, doch verströmten die italienischen Möbel und die zwei Regalbretter voller Bücher eine Atmosphäre von Gemütlichkeit, ja sogar Gelehrsamkeit, die auch durch die herrschende Unordnung nicht gemildert wurde. Die mechanischen Puppen waren auf ein Schränkchen geräumt worden, wo sie nun darauf warteten, ihre Kunst vorführen zu dürfen. Pömers ganze Aufmerksamkeit galt dem eisernen Hahn.
Der Nachmittag war inzwischen weit vorangeschritten, so dass das nach Osten weisende Zimmer in halbem Dämmer lag. Trotzdem hatte Pömer keine Kerzen
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