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Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Litanei, in die die Gemeinde zu gegebenem Zeitpunkt einstimmte. Richard presste die Lippen aufeinander. Er war zu lange nicht mehr zur Kirche gegangen und hatte die richtigen Worte vergessen.
    Plötzlich fühlte er sich hier völlig fehl am Platz. Er hatte das Recht, hier zu sein, schon vor vielen Jahren verspielt.
    Langsam, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, erhob er sich und trat aus der Bank. Er warf einen letzten Blick zum Altar. Dann eilte er ins Freie.
    Draußen war es inzwischen dämmrig geworden. Einige Wolken zogen auf, aber es war noch immer drückend schwül, und feuchte Luft legte sich wie ein nasses Tuch auf Richards Gesicht. Am Rand des Friedhofs blieb er stehen. Sobald er die Augen schloss, wirbelten die unterschiedlichsten Bilder und Geräusche durch seinen Geist: Magdalenas helles Lachen, ihr Ruf »Lass uns schwimmen gehen, Richard!«.
    Es war dieser Ruf, der ihn vorwärtstrieb.
    Er rannte.
    Rannte über den Friedhof, die Treppe hinunter. Durch Gassen und über Plätze, bis er den Henkersteg erreichte. Sein rechter Fuß verursachte einen dumpfen Klang, als er die Bohlen der schmalen Brücke berührte.
    Und plötzlich konnte Richard nicht weiter. Er erstarrte mitten im Schritt, ein Bein auf der Brücke, das andere noch auf festem Boden.
    Seine Hände krallten sich um das Brückengeländer, der Druck auf Ohren und Brust war plötzlich so stark, dass er aufstöhnte. Unter ihm floss das Wasser der Pegnitz entlang. Es glänzte silbrig und frisch im Licht der tiefstehenden Sonne, und trotzdem glaubte Richard, einen durchdringenden moorigen Geruch wahrzunehmen, der von seiner Oberfläche aufstieg. Unter der schimmernden Oberfläche, da war er ganz sicher, war das Wasser schwarz, schwarz und stinkend. Und noch tiefer, auf dem Grund, würden Knochen liegen, bleiche Knochen, ebenso wie in dem Weiher, in dem Magdalena ertrunken war, in den er sie getaucht hatte, und in dem ... Er stieß einen gequälten Schrei aus. Sein Blick fiel auf seine Rechte, die er um das Brückengeländer geballt hatte. Der schmale Silberring glitzerte im Licht der letzten Sonnenstrahlen.
    Langsam löste Richard die Hand von dem Holz, hob sie an den Mund und küsste den Ring. Seine Augen brannten jetzt; vorsichtig, als könne der Henkersteg im nächsten Moment unter ihm zusammenbrechen, zog er den Fuß zurück und atmete erleichtert auf, als er wieder auf festem Grund stand.
    »Sterner?«
    Die Nennung seines Namens durchschnitt die Erinnerungen und das Entsetzen. Richard drehte sich um.
    Im Eingang eines Hauses stand Jörg Zeuner, im Gesicht ein gleichzeitig freundliches und kühles Lächeln. »Wie gut, dass ich Euch treffe«, sagte er. »Ich muss mit Euch reden.«
    Richard schob die Erinnerungen und das Entsetzen von sich. »Womit kann ich Euch dienen?«
    Zeuner kam heran, breitete den Arm aus, als wollte er Richard über die Brücke treiben. »Lasst uns ein paar Schritte gehen.«
    Richard wich ihm aus. »Gern. Aber da lang.« Er wies in eine Gasse.
    Wenn Zeuner sich über diese Reaktion wunderte, so zeigte er es nicht. Er warf einen Blick in die angegebene Richtung und schlug ohne zu zögern diesen Weg ein. Er führte sie in Richtung Stadtmauer, in das älteste Viertel von Nürnberg, das zwischen der Sebaldus-Kirche und dem Neuen Tor lag. Entsprechend schmal und verwinkelt waren hier die Gassen. Das Licht der untergehenden Sonnereichte längst nicht mehr zwischen die Häuser, und so gingen sie in zunehmender Dämmerung dahin.
    Zeuner ließ sich Zeit mit dem Reden. Eine Weile plauderte er über Belanglosigkeiten, über die ungewöhnliche Hitze und was sie mit den armen Nürnberger Bürgern anstellte, dann wandte er sich dem gerade vergangenen Besuch von König Maximilian zu.
    »Pömer muss ziemlich beunruhigt sein von diesem seltsamen Mord«, sagte er schließlich.
    Sämtliche Gedanken, die er vorhin in der Kirche gehegt hatte, schossen Richard noch einmal durch den Kopf. Folter. Verrat. Angst. »Wie kommt Ihr darauf?«, sagte er so gleichgültig, wie er es vermochte.
    »Ihr müsst Euch nicht verstellen. Ich weiß vom Lochwirt, dass Ihr Euch mit einem von Pömer gesiegelten Schreiben Einlass ins Lochgefängnis verschafft habt, kurz nachdem Ihr bei mir gewesen seid.«
    Eine Katze, die bis eben auf einem niedrigen Fensterbrett gesessen und gemaunzt hatte, sprang zu Boden. Sie steuerte auf Zeuner zu und schien sich an seinen Beinen reiben zu wollen, aber er scheuchte sie mit einem lauten Zischen davon.
    »Was wollt Ihr von mir?«, fragte

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