Seraphim
Augen zu schauen. Die Wahrheit war, dass sie die Antwort selbst nicht kannte. Sie verspürte den Wunsch, Faro zu helfen, aber gleichzeitig malte sie sich aus, wie es sein würde, als Angeklagte im Loch zu sitzen. Die bloße Vorstellung erfüllte sie mit so viel Grauen, dass sie sie weit von sich schob.
»Lass mich vorbei!«, bat sie.
»Tu es nicht, Katharina!«, sagte er. »Denk an deine Mutter! Du bist die Einzige, die sie noch hat.«
»Lass mich vorbei!«
Bertram setzte zu einem Kopfschütteln an, aber dann besann er sich eines anderen. Schwerfällig trat er zur Seite. Katharina rannte die Treppe hinunter, zerrte den Riegel der Eingangstür zur Seite und floh die Wohnung am Henkersteg.
11. Kapitel
Es war noch dunkel, das Tageslicht zeichnete sich gerade erst als feiner silbriger Schleier am östlichen Horizont ab. In ihre eigenen düsteren Gedanken versunken, wanderte Katharina durch die noch in Träumen liegende Stadt, doch es dauerte nicht lange, da gingen die ersten Haustüren auf. Gähnende Dienstboten erschienen auf den Straßen und Gassen und machten sich daran, die ersten Aufgaben ihres langen Tages zu erfüllen. Frische Milch musste geholt werden und Brot aus den Bäckereien, die schon seit Stunden in Betrieb waren. Katharina sah zu, wie sich vor dem Fensterladen eines Bäckers eine kleine Schlange von Wartenden bildete. Die Menschen kannten sich, wahrscheinlich trafen sie sich jeden Morgen hier. Einige Begrüßungsrufe und Scherze flogen hin und her, bis die Menge in ihrer eigenen Müdigkeit versank und wieder verstummte. Irgendwann klappte der Bäcker seinen Laden auf, stützte ihn mit zwei Stecken ab, so dass er eine Art hölzernes Vordach bildete, unter dem die Fensterbank als Tresen diente.
»Mit welchem Mehl habt Ihr heute gebacken?«, hörte Katharina eine Dienstmagd in strengem Ton fragen, und der Bäcker kratzte sich am Kopf, als müsse er erst überlegen.
»Pömersches«, gab er schließlich zur Antwort.
»Immer nur Pömersches Mehl!«, murrte die Dienstmagd. »Meine Herrin sagt, es ist schlecht. Es schmeckt ihr nicht.«
Der Bäcker zuckte die Achseln, klatschte in seine mehligen Hände, dass eine weiße Wolke aufstäubte. »Könnt ja woanders kaufen«, riet er und wollte sich schon einer anderen Frau zuwenden.
Doch die Magd hob die Hand. »Zwei von den großen Laiben«, verlangte sie. »Und ein Weißbrot.«
Der Bäcker grinste sie breit an, bückte sich und hob das Gewünschte auf den Tresen.
Katharina ging weiter. Als sie den Großen Markt erreichte, begannen die Glocken der Frauenkirche und auch die St. Sebalds zu läuten. Die Sonne musste sich inzwischen über den Horizont geschoben haben, auch wenn die vielen engstehenden Häuser noch den Blick auf sie versperrten. Es wurde jetzt schnell heller.
Katharina lauschte dem Klang der Glocken, der die Gläubigen zur Frühmesse rief. Sie überlegte, ob sie in die Frauenkirche gehen sollte, lenkte dann aber ohne besonderen Grund ihre Schritte in Richtung des Schönen Brunnens an der nordwestlichen Ecke des Platzes. Im frühen Morgenlicht schimmerte er in seiner ganzen goldenen Pracht. Das leise Plätschern, mit dem das Wasser in das Becken floss, ließ Katharina innehalten. Sie schöpfte eine Handvoll und trank es aus der hohlen Hand. Dann ging sie weiter, kehrte der düsteren Fassade des Rathauses mit seinem Lochgefängnis den Rücken und überquerte den Kirchhof von St. Sebald. Vor einem der beiden Portale in der Westfassade blieb sie stehen.
Die Glocken läuteten noch eine Weile weiter, und wie immer, wenn sie ihnen lauschte, verwandelte sich das Geräusch in Katharinas Ohren in ein rhythmisches Dröhnen, das ihren Brustkorb beben ließ. Ein paar Menschen eilten vorbei, kamen die Stufen zum Kirchhof hoch und verschwanden im Inneren des Gotteshauses. Erst als der Takt der Glockenschläge sich verlangsamte, gab Katharina sich einen Ruck.
Sie betrat die Kirche mit dem letzten hallenden Schlag.
Wie an einem Wochentag üblich, fand die Messe nicht vor dem Hochaltar statt, sondern vor einem der dem Chor vorgelagerten Seitenaltäre. Eine große bunt bemalte Figur eines Heiligen mit einem goldenen Becher in der Hand stand darauf, und das Altartuch war golden und grün bestickt und zeigte eine Abendmahlsszene, in der Christus einen seiner Jünger umarmte.
Katharina huschte in eine der Bänke in der Nähe des Altars. Sie hatte sie ganz für sich allein, und kurz fragte sie sich, ob dies der Platz für die Verzweifelten war – für jene,
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