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Seraphim

Seraphim

Titel: Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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hinauf.
    Er hatte seinen Glauben an Gott schon vor vielen Jahren verloren, damals, als Magdalena gestorben war. Zumindest hatte er das immer gedacht. Doch in diesem Augenblick, da er auf das Kirchenportal starrte, das sich neben St. Sebalds Westchor befand, kam ihm der Verdacht, dass er sich möglicherweise getäuscht hatte. Vielleicht war es gar nicht der Glaube an Gott gewesen, den er verloren hatte, sondern nur der Glaube daran, dass alles, was geschah, einen tieferen Sinn hatte. Die Worte des Färbers kamen Richard vor wie ein Zeichen. Er wusste ohnehin nicht, was er als Nächstes tun sollte, also konnte er genauso gut auch die Messe besuchen. Wenn der Heilige Geist diesem Mann einen Hinweis geben konnte, wie er seine Geschäfte zu führen hatte, dann bestand ja vielleicht auch die Möglichkeit, dass Er in seiner unendlichen Weisheit Richard zeigte, was zu tun war.
    Im Inneren der Kirche erklang Orgelspiel; die heilige Messe begann in diesem Moment. Fast hätte die Musik Richard zum Umkehren bewogen, doch dann atmete er tief durch und lief an den Reihen dicht stehender Gräber vorbei zum Westchor.
    Die Kirchentür war schwer, und ihr messingbeschlagener Griff lag kühl in seiner Hand. Als er dagegendrückte, verstärkte sich die Musik, umfing ihn wie eine Woge, machtvoll genug, ihn rückwärts wieder hinaus auf den Kirchhof zu treiben. Wäre nicht in diesem Moment eine Frau hinter ihm aufgetaucht, gegen die er beinahe rempelte, dann wäre er tatsächlich davongelaufen. So aber hielt er der Frau die Tür auf und schlüpfte dann hinter ihr selbst in die Kirche. Er schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich in die hintere Bank zu setzen, bevor die Orgel in einem letzten brausenden Akkord verstummte.
    Während die Messe begann, faltete Richard die Hände, senkte den Kopf und versuchte, seine wirbelnden Gedanken zu beruhigen. Dieweihrauchgeschwängerte Kirchenluft bescherte ihm hämmernde Kopfschmerzen.
    Pömers Worte hallten in ihm wider, wurden lauter und lauter, bis Richard die Hände auf die Ohren presste, um ihnen zu entgehen. Die Luft steckte wie eine massive Substanz in seiner Kehle fest, und er keuchte, weil er das Gefühl hatte, ersticken zu müssen. Das Bild von den bleichen Knochen im schwarzen Wasser lauerte irgendwo am Rand seines Geistes, doch es gelang ihm, sie zurück in die Finsternis zu drängen.
    Er hatte einmal zugelassen, dass ein Mann gefoltert wurde. Es war lange her, und er hatte die Erinnerung daran viele Jahre lang tief in seinem Geist vergraben. Die Bilder jedoch, die ihn in der letzten Zeit plagten, waren ein Zeichen dafür, dass er die Ereignisse damals nicht vergessen hatte.
    Alles in ihm schrie danach, diesen Fehler nicht ein zweites Mal zu begehen.
    Aber da war noch etwas anderes.
    Der Wagner hat zwei Gulden erhalten, um ein besonders großes Rad anzufertigen.
    Richard wusste, warum Pömer ihm das mitgeteilt hatte; er hatte die unausgesprochene Warnung, die sich hinter diesen Worten verbarg, nur zu genau verstanden. Wenn der geheime Gang in seinem Keller entdeckt werden würde, das hatte Pömer gemeint, würde er ebenfalls des Verrats angeklagt werden. Und angesichts der Folter, die man ihm androhen würde, würde er recht schnell Richard und auch Marquard als Mitwisser verraten.
    Richard schloss die Augen bei der Vorstellung, selbst der Folter unterzogen zu werden. Er würde die Wahrheit nicht leugnen können, würde sie herausbrüllen.
    Ja, ja! Er wusste von dem Gang!
    Richard knirschte mit den Zähnen und verfluchte im Stillen den Getreidehändler und seinen schlauen Schachzug, ihm den Gang zu zeigen. Dadurch hatte er sich Richards Mithilfe besser versichert als durch jeglichen Schwur, denn den Folterern würde es egal sein, wann er von dem Gang erfahren hatte.
    Pömer hatte Richard in der Hand!
    Und dann waren da ja auch noch die Inquisitoren. Was, wenn die Männer wegen ihrer anatomischen Studien hier waren?
    Bei Gott: Sie hatten einen Christenmenschen zergliedert! Das allein war schon Frevel genug, um für lange Zeit im Loch zu landen.
    Er schluckte hart. »Ist es das, was du von mir verlangst, Herr?«, murmelte er. »Soll ich am eigenen Leib das erfahren, was ich den Meinen früher angetan habe?«
    Die Vorstellung erfüllte ihn mit solcher Angst und solchem Grauen, dass er sich zwingen musste, nicht aufzuspringen und davonzulaufen. Seine Blicke huschten über die Hinterköpfe der anderen Messebesucher.
    Vorne vor einem der Seitenaltäre begann der Priester mit einer lateinischen

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